Wieder zu sich kommt Orlando erst Stunden später. Bereits halb sieben am Morgen. Wie konnte ihm so etwas nur passieren? Noch nie ist er bei einer Frau zu Hause eingeschlafen, warum bei dieser? Nur ein Blick auf ihren wohlgeformten Körper reicht, um ihm die Frage zu beantworten. Das goldene Haar umschmeichelt in sanften Wellen ihre nackten Brüste, an denen er vor wenigen Stunden noch saugte wie ein Baby. Er möchte sie wecken und das ganze Spiel von vorne treiben, immer und immer wieder, aber die Sonne ist der Spielverderber, der ihn zum Gehen zwingt.
Als er sich aufrichtet, schwirrt ihm der Kopf und ihm wird plötzlich ganz schwarz vor Augen. Richtig schwach und kraftlos fühlt er sich, fast so als wäre jegliche Energie aus seinem Körper gesaugt worden. Ihr Blut wird ihn stärken. Nur ein Biss wird genügen, um sie die ganze Nacht vergessen zu lassen. Bedauerlich, dass er ihr ausgerechnet so etwas Einmaliges nehmen muss. Doch es ist nicht nur zu seinem, sondern auch zu ihrem Schutz. Auch wenn er sich an so gut wie keine Regel der Vampire hält, so gibt es doch die eine, gegen die niemand, nicht mal er, wagen würde zu verstoßen: „Erhalte stets deine Maskerade!“
Niemand darf jemals erfahren was er wirklich ist. Denn auf die Entdeckung steht nicht nur der Tod für den Entdecker, sondern auch für den Entdeckten.
Sanft fahren Orlandos Hände über die helle, so leicht zu verletzende Haut an ihrer Kehle. Fast schmerzt es ihn, dieses perfekte Gesamtbild mit einem Biss zerstören zu müssen. Es werden nur winzige rote Punkte zu sehen sein, doch genug um die Perfektion zu vernichten. Seine Lippen liebkosen ihren schlanken Hals, bevor sich seine spitzen Eckzähne sanft in das weiche Fleisch drücken. Blut sickert in seinen gierigen Mund, nur um ihn röchelnd und hustend zurückweichen zu lassen. Es brennt wie Feuer in seiner Kehle und raubt ihm nicht nur die Sinne, sondern wortwörtlich die Luft zum atmen. Das Blut brennt stärker als jeder hochprozentige Alkohol, fast erscheint es ihm als würde seine gesamte Speiseröhre von einem unsichtbaren Gift verätzt werden. Tränen steigen ihm in die Augen, während er schweißgebadet zu Boden sinkt. Wie ein Fisch an Land, schnappt er nach Luft und übergibt sich, bis der Brand endlich wieder etwas nachlässt. Benommen zieht er sich am Bett empor auf die Beine. Er hat keine Erklärung für das, was hier gerade passiert ist. Es beunruhigt und verunsichert ihn zutiefst. Nicht ein winziges Einstichloch ist auf ihrem weißen Schwanenhals zu sehen, während das Feuer immer noch stechend in seinem Magen wütet. Doch ihm bleibt keine Zeit weiter darüber nachzudenken, die Sonne und der anbrechende Tag treiben ihn zur Flucht. Schwankend wankt er aus dem Zimmer. Nur gut, dass Moundrell Manor nicht weit weg ist. Eine Fahrt durch die Stadt hätte er nicht überlebt.
Nach einer herrlichen Konserve Blut hat sich Orlandos Magen von dem Schock wieder erholt. Als er das Anwesen betrat, herrschte zu seiner Freude bereits die gewohnte tägliche Ruhe. Man hätte ihm seine Verunsicherung angesehen und das hätte nur weitere Fragen aufgeworfen, derer er in diesem Moment nicht fähig gewesen wäre zu antworten. Er versteht nicht was passiert ist, er versteht die ganze Nacht nicht. Es macht ihm Angst, aber weckt auch seine Neugier. Ihre leuchtenden Augen sind das Letzte, was ihm in den Sinn kommt, bevor er erneut einschläft. Niemals könnte er diese Augen wieder vergessen. Er würde sie erkennen unter Millionen. Smaragdgrün und strahlender als die Sonne, doch so kalt wie Eis.
Das Zwitschern von Vögeln dringt durch die geschlossenen Fenster in das noch dunkle Zimmer. Ein kühler Windhauch streicht über Lias nackten Rücken und kitzelt die feinen Härchen. Erholt schlägt sie die Augen auf und gähnt erst mal kräftig, bevor sie sich die dicke Decke bis zum Hals zieht. Vogelgezwitscher im Winter? Wie viel Uhr ist es denn schon? Hat sie vergessen ihren Wecker zu stellen? Einen Blick auf die Uhr revidiert diese Annahme. Erst kurz vor sieben, sie könnte locker noch zehn Minuten schlafen. Es grenzt schon an ein Wunder, dass sie ohne das schrille Klingeln des Weckers erwacht, aber dass sie tatsächlich die Lust verspürt sofort aufzustehen, ist beängstigend. Normalerweise würde sie sich genervt das Kissen über den Kopf ziehen, in der Hoffnung, den Wecker dann später nicht zu hören und so für sich selbst eine Ausrede zu haben, warum sie heute mal wieder nicht in die Schule geht. Sonst hat sie morgens immer Magen- und Kopfschmerzen, wenn sie an ihre Mitschüler denkt und wie diese sie heute wohl wieder quälen werden. Doch gerade fühlt sie sich seltsam befreit und sehnt sich danach ihre Freunde und vor allem Lindsay wieder zu sehen. Sie hat ihr etwas zu erzählen! Ein Lächeln huscht über ihre Lippen.
Die Schikanen der anderen erscheinen plötzlich nur noch halb so schlimm. Sie ist immerhin nur wenige Stunden des Tages in der Schule. Eisblaue Augen und Haare so dunkel wie die Nacht tauchen vor ihrem inneren Auge auf. Die Haut an ihrem Hals prickelt vor Erregung bei dem Gedanken an die vielen Küsse und Berührungen der letzten Nacht. Verblüfft stellt sie fest, dass sie sich nicht für die Erinnerung daran wie sonst schämt.
Erleichtert schwingt sie ihre Beine aus dem Bett und tapst barfuß in ihre Decke gehüllt über die Holzdielen zu ihrem weißen Holzkleiderschrank und öffnet schwungvoll die Flügeltüren. Der Schrank ist zweigeteilt. Auf der einen Hälfte befindet sich eine Kleiderstange mit den perlgrünen Blazern und Röcken sowie einer Reihe weißer Blusen ihrer Schuluniform. Außerdem noch eine dicke Daunenjacke für kalte Tage und eine verschlissene braune Lederjacke, die das letzte Überbleibsel ihrer Mutter darstellt. Der einzige Beweis, dass sie überhaupt je existiert hat. Denn im ganzen Haus konnte Lia bisher weder ein Foto noch sonst irgendeinen Nachweis ihrer Existenz finden. Seitdem sie laufen kann durchsucht sie bereits sowohl den Keller als auch den Dachboden danach, jedoch ohne jeglichen Erfolg. Sie weiß nicht mal, ob sie ihr überhaupt ähnlich sieht und ihren Vater nach ihr zu fragen, ist zwecklos, da er jedes Mal in eine Art Trance verfällt und dann nur vor sich hin stammelt wie wunderschön sie war, aber das sie gegangen sei. Kein vernünftiges Wort ist in Bezug auf ihre Mutter aus ihm herauszubekommen. Es ist wie mit einer Wand zu reden, sodass Lia ihn oft am liebsten fest an beiden Schultern packen würde, um ihn dann solange zu schütteln, bis er endlich mit Antworten auf ihre vielen Fragen herausrückt.
Die andere Hälfte des Schranks enthält Fächer für private Kleidung, die bei Lia hauptsächlich aus schwarzen und grauen Longtops und dunklen Jeanshosen besteht. Nur im untersten Fach knüllen sich ein paar kurze Minikleider zusammen, an deren Käufe sie sich nur entfernt erinnert. Manchmal ist die Scham am Morgen so groß, dass sie sich eines der Kleider in Wut herauszerrt und eigenhändig mit einer Schere zerschneidet. Doch seltsamerweise gehen die winzigen Fetzen nie aus.
Nachdem sie sich im Badezimmer gewaschen und angezogen hat, stellt sie sich in ihrem Zimmer vor den Spiegel über ihrer mit Schnörkel verzierten Kommode und streicht mit den Fingern über die feine Stickerei des Schulwappens. Ein weißer Leuchtturm auf grünem Grund, das Logo von Scarborough, der ehemaligen Fischerstadt.
Mit einer Bürste kämmt sie sich die Haare und will sie bereits wieder in einem Pferdeschwanz zurückbinden, doch entscheidet sich dann dagegen. Warum sollte sie ihr Haar nicht mal wie jedes andere Mädchen offen tragen? Sollen die anderen doch reden was sie wollen! Sie ist doch nicht auf der Welt, um sich immer nur Gedanken über andere zu machen.
Beschwingt gleitet sie in einem hüpfenden Schritt die Holztreppe hinunter in die Küche. Zu ihrer Überraschung, trifft sie dort auf ihren Vater, der lässig am Tresen lehnt, mit der aktuellen Tageszeitung in den Händen und die heutigen Börsenkurse studierend.
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