„Guten Morgen, Daddy“, begrüßt sie ihn lächelnd und erntet einen irritierten Blick. ‚Gut’ war ein Morgen schon lange nicht mehr und ‚Daddy’ hat sie ihn zuletzt mit fünf genannt. Er räuspert sich.
„Guten Morgen Liandra. Maria hat heute Morgen frische Pancakes gemacht, bevor sie einkaufen gefahren ist.“
Maria ist ihre spanische Haushälterin, Köchin und einfach Mädchen für Alles. Kurz: Die gute Seele in ihrem Haus. Lia lächelt.
„Wie lieb von ihr, aber ich habe gar keinen Hunger. Kann ich etwas von deinem Kaffee haben?“
Das Verhalten seiner Tochter erscheint Mr. Green immer eigenartiger, so dass er die Zeitung sinken lässt. „Es ist noch eine ganze Kanne da, nimm dir ruhig.“
Mit einem Becher Kaffee lässt sich Lia auf den Stuhl, gegenüber ihrem Vater gleiten und schaut fröhlich hinaus in den schneebedeckten Garten, wo sie einen Vogel dabei beobachtet, wie er den vereisten Boden nach Körnern absucht.
„Wie läuft es in der Schule?“
„Ach das wird schon, ich arbeite dran. Wenn man sich wirklich Mühe gibt, kann man alles schaffen.“
Vor Schock verschluckt sich William Green an seinem Kaffee. Das Mädchen, welches ihm dort gegenüber am Tisch sitzt, kann unmöglich seine pessimistische, stets depressive Tochter sein. Doch ehe er dazu in der Lage ist, sie auf ihre gravierende Veränderung anzusprechen, springt sie von ihrem Stuhl auf, drückt ihm einen Kuss auf die Wange und rauscht durch die Tür. Er weiß nicht, was er davon halten soll. Zwar hat er sich immer gewünscht, dass sie sich endlich ändern und zur Vernunft kommen würde, doch mit so einer plötzlichen Wandlung hat er nicht gerechnet.
Während der Fahrt in ihrem alten VW Golf durch die kahle Alleestraße von der Manor Road zu der Scarborough Grammar School, pfeift der Wind eisig durch das undichte Fenster. Ihr Vater würde ihr jederzeit mit größter Freude ein neueres, schnelleres und allgemein schöneres Auto schenken, doch Lia weiß, dass das nichts weiter als rausgeschmissenes Geld wäre. Denn es wäre schade, wenn das neue Auto bereits nach einem Tag auf dem Schulparkplatz mit Kratzern und Kaugummis ihrer aufmerksamen Mitschüler übersäht wäre. Dem alten Golf schadet das nicht. Die Kratzer im einst schwarzen Lack kann sie schon nicht mehr zählen und das obwohl sie extra schon ein paar Straßen von der Schule entfernt parkt.
Aber davon will sie sich heute nicht ihre gute Laune verderben lassen und so dreht sie das Radio lauter als „Rebel yell“ von Billy Idol läuft, einer ihrer absoluten Lieblingssongs.
„ Last night a little dancer
Came dancin' to my door“
Die Blicke der anderen sind unbezahlbar. Damit haben sie nicht gerechnet. Die schwache Lia, die sich von allen demütigen lässt und sich aus lauter Angst in der hintersten Ecke versteckt, gibt es schlagartig nicht mehr. Zwar hat sie immer noch ihren alten Platz, doch sitzt sie nun aufrecht und mit erhobenem Kopf da. Zum ersten Mal seit langer Zeit, ist sie wieder in der Lage Mr. Attkins zuzuhören anstatt den Lästereien von Tracy und Sarah in der Reihe vor sich zu lauschen. Egal wie laut sie heute auch schimpfen, es verletzt Lia nicht mehr. Einzig der Gedanke an schwarz gewellte Haare auf ihrer nackten Haut lässt sie abschweifen und mit einem glückseligen Lächeln wieder aufhorchen.
Mr. Attkins hat ihre Veränderung auch bemerkt. Er ist es nicht gewöhnt, dass irgendjemand wirklich aufmerksam seinen Unterricht verfolgt. Wenn sein Blick den ihren streift, gerät er immer wieder in ein verwirrtes Stottern. Mittlerweile haben sie im Unterricht das Jahr 1914 erreicht, indem im November an der deutschen Westfront ein System aus Schützengräben entstand und der Grabenkrieg begann. Plötzlich schweigt Mr. Attkins und wippt aufgeregt auf seinen Fußballen vor und zurück. Seine Augen wandern über die Klasse, ein erfolgloser Versuch sich die Aufmerksamkeit zu sichern. Unbeirrt fährt er jedoch fort. Im Dezember sei dann etwas Unglaubliches geschehen. Er rechnet nicht damit, dass irgendjemand gut genug zuhört, um sich zu melden und so blinzelt er zweimal ganz irritiert als ausgerechnet Lias Hand in die Höhe schnellt.
„Ja…Liandra?“, fragt er fast scheu. Er erscheint Lia auf einmal gar nicht mehr wie der kleine Giftzwerg vom Vortag, sondern eher wie ein Mann, der auf Grund seiner Größe an mangelndem Selbstbewusstsein leidet.
„Im Dezember war der Weihnachtsfrieden.“
Seine Augen leuchten und funkeln euphorisch, als er erfreut die Hände zusammenklatscht.
„Ganz genau, können Sie uns erklären was damit gemeint ist?“, seine Stimme überschlägt sich fast vor lauter Aufregung und Begeisterung.
„Es war ein kurzzeitiger Waffenstillstand zwischen den deutschen und britischen Soldaten zu Ehren des Weihnachtsfests. Teilweise haben sie sogar Verbrüderungsgesten ausgetauscht.“
Mr. Attkins nickt erst zufrieden, um danach ein betrübtes Gesicht aufzusetzen.
„Ja und das alles nur, um nach Weihnachten mit demselben Krieg fortzufahren, indem die Soldaten nur Werkzeuge waren.“
Er gleitet wieder ab in einen seiner Monologe, doch mit einem viel glücklicheren Gesicht als Lia es in dem ganzen letzten Jahr bei ihm gesehen hätte. Vielleicht ist es ihr nur nie aufgefallen, aber Mr. Attkins Freude ist ansteckend. Geschichte ist viel interessanter als sie dachte. Man kann daraus jede Menge für das heutige Leben lernen. Fehler der Vergangenheit müssen nicht in der Zukunft wiederholt werden. Warum hat sie das vorher nur nie gesehen?
Bevor Mr. Attkins sie alle in die Pause entlässt, wünscht er ihnen schon mal ein schönes Weihnachtsfest. Es ist ihre letzte Geschichtsstunde vor den Winterferien und dem Start ins neue Jahr. Außerdem bittet er sie, sich doch am Weihnachtsfrieden mal ein Beispiel zu nehmen und alte Fehden wenigstens über die Festtage ruhen zu lassen.
Lia trödelt nicht wie gewöhnlich herum, sondern beeilt sich ihre Sachen zusammen zu packen und drängt sich zusammen mit den anderen aus der Klasse. Dabei kann es Tracy sich natürlich nicht verkneifen sie auf ihre Veränderung anzusprechen.
„Du hast es wohl echt nötig! Wie billig sich hier vor der ganzen Klasse beim Lehrer einzuschleimen!“, fährt sie sie herablassend an, wobei Sarah direkt anfängt Lia mit piepsiger Stimme nachzuäffen
„ Ja, Mr. Attkins. Ganz ihrer Meinung, Mr. Attkins.“
Bradley grölt vor Lachen und stimmt wie üblich in die Stichelei ein. „Darf ich Ihnen den Schwanz lutschen, Mr. Attkins?“
„Du bist so eine Schlampe!“, empört sich Tracy erneut und schmeißt sich ihre Locken lässig über die Schulter, ohne eine Antwort von Lia zu erwarten.
„Das sagt gerade die Richtige! Gib doch einfach zu, dass du neidisch bist oder klapp Bradley wenigstens mal die Kinnlade hoch, sonst fängt er noch an zu sabbern.“
Es herrscht Totenstille, die nur von einem einzigen herzhaften Lachen unterbrochen wird. Tru klopft Lia auf die Schulter und zwinkert ihr schelmisch zu, bevor sie an ihr vorbei auf den Ausgang zueilt.
Auch Lindsay und Mike sind positiv überrascht als Lia mit den anderen aus der Klasse strömt. Es hebt Lindsays Laune gewaltig, sodass sie sich bei Lia freundschaftlich einhakt und sie in Richtung Cafeteria zieht. Dieses Mal sind sie so früh dran, dass Lia einen Platz am Fenster für sie besetzen kann. Sie ignoriert die Blicke der anderen tapfer, indem sie in den Schulhof blickt und die Blätter dabei beobachtet wie sie von den Bäumen fallen. Der Schnee auf dem Pflasterboden erinnert sie an die kalte Haut des Fremden der letzten Nacht.
Mike konnte es sich durch seine fürsorgliche Ader nicht verkneifen ihr ein Schälchen Obstsalat und eine Cola Lemon mitzubringen. Lia hat jedoch immer noch keinen Hunger und so stochert sie nur in dem Salat herum, wobei sie weiter grinsend aus dem Fenster blickt.
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