Er lachte leise.
Dann umfassten seine Finger ihr Kinn und hoben es sachte an.
Ihre Augen trafen sich einen Moment, ehe sie der ausladenden Bewegung seiner Hand folgte.
„Das wollte ich dir zeigen.“
Kristín war gefesselt von dem Anblick, der sich ihr bot.
Das Meer.
Sie konnte das Meer sehen.
So nah.
So mächtig.
Und als würde es sie begrüssen, erfasste ein Windstoss die junge Frau, brachte sie so einen Augenblick ins Wanken.
Doch grosse, warme Hände waren sofort zur Stelle, um sie aufzufangen.
Ihre Blicke trafen sich, begegneten sich mit einer Intensität, die ein Denken unmöglich machten.
Sie war so schön, wie sie dastand, dieses Strahlen, diese Faszination, in den Augen.
Der Wind spielte mit ihren Haaren.
Und ihr Lächeln wurde immer breiter.
„Willst du näher hin?“
Er fühlte sich plump.
Unfähig, sich ihrer Magie zu entziehen.
Doch sie lächelte nur.
Warm, offen.
Und berührte damit sein Herz.
„Sehr gern.“
Sie drehte sich um, der Zauber brach.
Ihr Blick glitt über den Strand.
„Gehen wir ein Stück?“
Halli nickte, nahm ihre Hand und half ihr, über die Steine hinweg hinunter zum Meer zu gelangen.
„Es soll Tage geben, an denen man hier Seehunde sehen kann.“
Er deutete hinaus aufs Wasser.
Sie folgte seinem Blick.
„Hast du schon einmal welche gesehen?“, fragte sie leise.
Er schüttelte bedauernd den Kopf.
„Ich bin sehr selten am Meer.“
Da war er wieder.
Dieser Unterton.
Dieses Mal wagte sie es.
„Was ist passiert?“
Kristín blieb stehen.
Den Blick auf das tosende Wasser gerichtet.
Es blieb still.
Keiner sagte ein Wort.
Dann plötzlich begann er zu reden.
Seine Stimme zitterte leicht.
Doch sie konnte deutlich spüren, dass er stark sein wollte.
„Meine Mutter starb als ich noch klein war.“
Er machte eine Pause.
„Mir wurde erzählt, sie sei ins Meer gegangen.“
Ihre Hand tastete nach seinem Arm.
Die Wärme ihrer Finger prickelte auf seiner Haut.
Er schnaubte leise.
Seiner Enttäuschung Luft machend.
„Sie hat sich das Leben genommen. Mamma war depressiv.“
Sein Blick richtete sich zu seinen Füssen.
„Man fand ihre Leiche am Strand. Zwei Tage waren vergangen zwischen ihrem Verschwinden und als man sie fand. Für meinen Vater brach eine Welt zusammen.“
Erneut sah er wieder aufs Meer hinaus.
Sein Blick folgte den Wellen.
Kristín hörte einfach nur zu.
„Er wusste von ihrer Krankheit. Von Anfang an. Aber er hatte die stille Hoffnung, dass ein Kind sie aus dem Dunkeln holen könnte. Dass ich ihr Licht werden könnte.“
Halli kickte einen Stein fort, als er sich langsam in Bewegung setzte und sie gemeinsam ein Stück den Strand entlang gingen.
„Sie liess mich nie spüren, dass sie krank war. Und Pabbi sagte sie nie, wie schlecht es ihr wirklich ging. Wir lebten im Glauben und der Hoffnung, eine glückliche kleine Familie zu sein.“
Seine Stirn legte sich zornig in Falten.
„Und dann ging sie fort. Einfach so. Ohne Abschied. Und zurück blieben wir...“
Er suchte nun Kristíns Blick.
Enttäuschung und Schmerz spiegelte sich in seinen Augen.
Sein Anblick berührte sie.
War es nun Zeit für ihre Geschichte?
Sie holte tief Luft.
„Ich bin hier auf Island, weil…“
Sie schüttelte den Kopf, ihre Augen glitten über das Meer.
„Mein Vater hatte ein Geheimnis...“
Dieses Mal war es seine Hand, die sich wärmend auf ihren Arm legte.
Und so erzählte sie ihre ganze Geschichte...
Die rundliche Krankenschwester hob den Kopf von ihren Unterlagen, als Kristín völlig aufgelöst aus dem Treppenhaus auf die Station trat.
Es war mitten in der Nacht, die Abteilung wie ausgestorben.
Ihre Blicke trafen sich.
„Wie geht es meinem Vater?“, waren die ersten Worte, die Kristín unter grösster Anstrengung hervorbrachte, während sie die Schwester nicht aus den Augen liess, welche nun ruhigen Schrittes auf sie zukam.
Schwerfällig lehnte sich die junge Frau an die Wand und versuchte, zu Atem zu kommen.
Sie war beinahe den ganzen Weg hierher gerannt.
Ihre Stimme zitterte, ihre Hand hielt noch immer das Mobiltelefon umklammert, auf dem vor nicht einmal 15 Minuten ein Anruf aus dem Krankenhaus einging mit der Nachricht, dass ihr Vater die Nacht wahrscheinlich nicht überstehen würde.
Nur mühsam konnte Kristín die Tränen zurückhalten, als die ältere Frau sie sachte an die Hand nahm und wie ein kleines Kind durch den Gang zu einem Stuhl führte.
Widerwillig liess sich die junge Frau darauf nieder und schaute panisch zu der Krankenschwester hoch.
„Ist er…?“, fragte sie ängstlich, doch die Frau schüttelte leicht den Kopf und lächelte beruhigend.
Erleichterung durchströmte Kristín und sie entspannte sich etwas.
„Ich bin gleich wieder bei Ihnen, meine Liebe. Versuchen Sie etwas zu Atem zu kommen.“
Mit diesen Worten verschwand die grauhaarige Frau im Stationszimmer.
Kurze Zeit später kehrte sie mit einer dampfenden Tasse Tee zurück.
„Hier, der wird Ihnen guttun.“
Dankbar über diese schlichte Geste nahm sie das Getränk entgegen.
Die Wärme des Tees tat seine Wirkung.
Ihr Atem entspannte sich und das Pochen ihres Herzens wurde leiser.
Sie holte einmal tief Luft, bevor sie sich wieder der älteren Krankenschwester zuwandte, welche sich auf dem Stuhl neben ihr niedergelassen hatte.
Auch sie hielt eine Tasse Tee in den Händen, hatte ihre Hände wärmend darum gelegt.
„Wie geht es meinem Vater?“, fragte Kristín erneut und die Angst schwang deutlich in ihrer Stimme mit.
Eine bedrückende Stille folgte.
Nur das Ticken der Uhr an der Wand war zu hören.
Dann seufzte die Schwester lautlos und ihr Blick wurde traurig, als sie sich Kristín zuwandte.
„Es tut mir so leid, Liebes.“
Ihre warme Hand legte sich tröstend auf das Knie der Jüngeren.
„Die Medikamente schlagen nicht mehr an. Ihr Vater hatte grosse Schmerzen. Deshalb sahen sich die Ärzte gezwungen, die Morphium-Dosis zu erhöhen. Seither ist er ruhiger. Aber seine Lungen beginnen nun, Wasser zu sammeln. Man hat versucht, dieses zu entfernen, doch der Erfolg ist nur von kurzer Dauer.“
Die ältere Frau atmete hörbar aus und ihr Blick war voller Mitgefühl.
„Es tut mir so leid. Ich hätte Ihnen diese Nachricht gerne erspart. Ihr Vater schien so gut auf die neue Therapie anzuschlagen…“
Eine Zeit lang sprach keine von beiden ein Wort.
„Warum er?“, flüsterte Kristín schliesslich leise, den Blick auf die Uhr an der Wand gerichtet, die unbarmherzig weiter tickte, Sekunde für Sekunde.
„Das ist nicht fair.“
Ihre Augen brannten, aber sie hatte nicht den Mut, die Tränen freizulassen.
Sie musste stark sein.
Ihr Vater war es ja auch.
„Manche Dinge geschehen ohne unser Zutun, meine Liebe.“
Der Blick der Krankenschwester wurde einen Moment weich, als sie Kristín betrachtete, doch sie fasste sich schnell wieder.
„Gehen Sie zu ihm. Er hat heute bereits nach Ihnen gefragt.“
Sie tätschelte der jungen Frau aufmunternd das Knie, ehe sie sich schwerfällig aus ihrer sitzenden Position erhob und sich mit der Hand abwesend über das Gesicht fuhr.
Kristín bemerkte zum ersten Mal in ihrem Leben, dass es wohl Schicksale und Menschen gab, die auch an einer Krankenschwester nicht spurlos vorbei gingen.
Ihr Vater war einer davon.
Ihre Blicke trafen sich erneut.
„Es gibt so vieles, was ihr Vater noch mit Ihnen besprechen möchte. So vieles, was er Ihnen noch sagen möchte.“
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