Kristín glaubte, sich verhört zu haben.
„Sie tun was?“
Er blickte amüsiert auf sie herunter.
„Du hast es schon richtig verstanden. Sie zählen die Orgelpfeifen."
Kristín bemühte sich, ernst zu bleiben.
„Und kannst du mir noch sagen, warum sie das tun?“
Es fiel ihr schwer, das Lachen zurückzuhalten und der Isländer spürte das nur allzu deutlich.
„Naja..“
Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
„Ich habe ihnen da vielleicht von einem Wettbewerb erzählt.. Wenn sie die richtige Anzahl Orgelpfeifen erraten, gewinnen sie eine Übernachtung hier in Reykjavík.“
Es fiel ihr wirklich sehr, sehr schwer, weiterhin ein ernstes Gesicht zu machen, als Halli sogar verlegen mit dem Fuss am Boden herum scharrte und die Hände hinter dem Rücken verschränkte.
„Und diesen Wettbewerb gibt es wirklich?“
Er suchte ihren Blick, seine Augen glitzerten vergnügt, als er ein leises „Nein…“ aussprach.
Da war es um Kristín geschehen.
So konnte nicht mehr an sich halten und brach in lautes Gelächter aus, in welches der Isländer einstimmte.
Kichernd wie zwei kleine Kinder taumelten sie aus dem Lift, als sich die Türen öffneten.
Die missmutigen Blicke der Leute um sie herum bemerkten sie gar nicht, als sie sich keuchend an die Wand lehnten und versuchten, wieder zu Atem zu kommen.
„Danke.“, war alles, was die junge Frau sagte, als sie sich wieder beruhigt hatten.
Er hatte in der Kirche bereits keine Fragen gestellt und hinterfragte es auch jetzt nicht.
Er verstand auch so, dass sie eine kleine Ablenkung gut hatte gebrauchen können.
„Komm, lass mich dir die Stadt endlich zeigen.“
Mit diesen Worten öffnete er die Tür zur Aussichtsplattform und gewährte Kristín einen Ausblick, der ihr den Atem verschlug.
All die bunten Häuser, die sich aneinander reihten, der Weitblick und das Meer liessen sie all ihre dunklen Gedanken vergessen.
Sie schloss die Augen und genoss den Augenblick, als der Wind ihr um die Nase wehte.
Hinter ihr stand Halli und betrachtete die blonde Frau fasziniert.
Die Aussicht auf die Stadt war für ihn nebensächlich.
Er hatte einen viel besseren Ausblick vor sich.
Erst als sie wärmend ihre Arme um den Körper schlang, erwachte er aus seiner Starre.
„Hast du auch noch wärmere Kleidung dabei?“
Sie drehte sich um und lächelte verlegen.
„Ich fürchte nicht wirklich…“
Er machte sich nicht über sie lustig, sondern zog sie zurück zum Ausgang und zum Lift.
„Dann lass mich dir unsere berühmteste Einkaufsmeile zeigen. Dort finden wir bestimmt etwas, was dich wärmt. Und etwas Leckeres zu essen finden wir auch noch.“
Sie liess sich von seiner Begeisterung mitreissen, betrachtete im Vorbeigehen belustigt, dass noch mehr Menschen sich um die Orgel versammelt hatten und bedachte Halli mit einem mahnenden Blick.
Doch er zuckte nur mit den Schultern und schlug den Weg zu seinem Auto ein.
„Warte kurz hier… Ich hol nur was.“
Mit diesen Worten verschwand er auf der Rückbank seines Autos und Kristín konnte ihn leise fluchen hören.
Keine zwei Minuten später kam er wieder aus seinem Auto hervor und hielt ihr etwas hin, was sie bei genauerer Betrachtung als einen Pullover identifizierte.
Einen ähnlichen, wie ihr Vater einen besessen hatte.
Ihre Finger glitten prüfend über die kratzige Oberfläche.
„Nicht der Schönste, aber er wärmt.“, versuchte sich der Isländer zu rechtfertigen.
Ohne weiter zu überlegen, streifte sie ihn sich über.
Er war viel zu gross, aber sofort spürte sie, dass der Wind viel weniger an ihre Haut herankam.
Ungläubig sah sie Halli an.
Dieser schmunzelte.
„Isländische Wolle. Unsere Schafe sind berühmt dafür.“
Er zupfte den Pullover etwas zurecht und wies dann mit der Hand die Strasse hinunter.
„Wollen wir? Ich könnte etwas zu essen vertragen.“
Kritisch beäugte Kristín den Hotdog, eine Pylsa með öllu, wie Halli ihn nannte, in ihrer Hand.
„Unser inoffizielles Nationalessen hier in Island. Na los, versuch es.“
Aufmunternd wedelte er mit seinem Hotdog vor ihrem Gesicht herum, ehe er genüsslich hinein biss.
Ungläubig sah sie ihm dabei zu, wie er sein Essen mit drei Bissen hinunterschlang und sich anschliessend die Finger sauber leckte.
Er lächelte, als er ihre hochgezogene Augenbraue bemerkte.
„Schmeckt es dir nicht?“, fragte er belustigt und betrachtete sie mit leicht geneigtem Kopf.
Verlegen lenkte die junge Frau ihren Blick zurück auf den Hotdog in ihrer Hand, holte tief Luft und biss zögerlich hinein.
Der Geschmack überraschte sie durchaus positiv.
Und als sie sich schliesslich ebenfalls die Finger säuberte, stupste Halli Kristín lachend in die Schulter.
„Wusste ich es doch, dass dir das schmeckt. Aber sei nicht zu gierig. Später bekommst du noch die beste Hummersuppe, die du je in deinem Leben essen wirst.“
Kristín schüttelte panisch den Kopf.
„Tut mir leid, Halli. Ich esse keinen Hummer.“
Der grosse Isländer hob belustigt eine Augenbraue und lächelte wissend.
„Das haben schon viele gesagt. Aber ich verspreche dir, wenn du diese Suppe gekostet hast, wirst du deine Meinung revidieren. Bitte, lass es uns versuchen, ja?“
Er neigte den Kopf erneut zur Seite und betrachtete sie mit einem Blick, dem man am ehesten mit einem bettelnden Hund vergleichen konnte.
Und Kristín spürte, wie ihr Widerstand brach.
Was hatte dieser Mann nur an sich, dass er sie so leicht um seinen Finger wickeln konnte?
Er wusste eindeutig, dass er gewonnen hatte.
Sie sah es in seinen Augen.
Diese glitzerten vergnügt, als er begeistert in die Hände klatschte.
„Komm, Kristín. Lass uns sehen, dass wir für dich eine etwas wärmere Kleidung finden.“
Dann eilte er mit schnellen Schritten vor ihr her und die junge Frau hatte Mühe, mit ihm mitzuhalten.
Sie hatte keine Gelegenheit, ihren Blick auf die Ladengeschäfte links und rechts zu richten, ihr Fokus lag allein auf dem rothaarigen Mann vor ihr, der gar nicht mitbekam, wie er die Blicke auf sich zog und ohne Probleme die Menge vor sich teilte.
Eine Zeit lang hielt er sich das Mobiltelefon an sein Ohr.
Aber sie bekam kein Wort des Gespräches mit.
Das Geschnatter der anderen Menschen um sie herum war zu laut.
Erst als er eine Nebenstrasse zum Laugavegur erreicht hatte, verlangsamte er seine Schritte.
Das Telefon war wieder in seiner Jacke verschwunden.
Vor einem Ladenfenster mit Wollwaren blieb er schliesslich stehen und sah sich nach ihr um.
Leicht ausser Atem blieb sie neben ihm stehen und versuchte ihren Puls etwas zu beruhigen.
„Sag mal, musst du immer so rennen?“
Sie war ziemlich sauer, weil es ihr sehr schwer gefallen war, ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Zum Glück war er so gross, dass er die Leute um ein gutes Stück überragte.
So fiel es ihr bedeutend leichter, ihm zu folgen.
Halli sah irritiert auf sie herab.
„Rennen? Ich bin doch ganz normal gelaufen…“
Kristín musterte ihn kritisch, doch er schien wirklich nicht zu verstehen, was sie gegen seine Gangart hatte.
Also stupste sie ihn in den Oberarm und schenkte ihm ein versöhnliches Lächeln.
„Versuch doch in Zukunft bitte, daran zu denken, dass ich etwas kürzere Beine habe als du.“
Er nickte bekräftigend und schenkte ihr einen entschuldigenden Blick.
Dann drehte er sich um und deutete auf die Wollwaren in der Auslage des Ladens.
„Meinst du, wir finden hier etwas für dich?“
Er klang etwas kleinlaut.
Kristín berührte ihn an der Hand, so dass er sich wieder zu ihr umwandte.
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