Dann seufzte er tief.
„Das ist nicht viel…“
Er stupste sie leicht in den Oberarm und grinste breit.
„Aber wir Isländer sind ja nur ca. 330‘000. Da wird wohl jemand darunter sein, der deine Schwester oder deine Mutter kennt und uns weiterhelfen kann. Und genau den Menschen suchen wir jetzt. Ich bin überzeugt, wir werden ihn finden.“
Halli tätschelte aufmunternd ihr Knie, bevor er nach seiner Flasche griff, den letzten Schluck nahm und sie dann hinter sich auf den Rücksitz warf.
Der Blick der jungen Frau folgte dieser Bewegung missbilligend.
Der Isländer kratzte sich verlegen am Kopf, als er sich das Chaos auf der Rückbank wieder ins Gedächtnis rief.
„Ich verspreche dir, mich in Reykjavík um dieses Dilemma zu kümmern.“
Kristíns Blick wanderte erneut über all den Müll.
In diesem Moment spürte sie, wie er sie sanft am Kinn anfasste und sie so zwang, ihn anzusehen.
Er lächelte warm.
„Ich schwöre.“
Er legte sich die Hand auf seine Brust, um sein Versprechen zu unterstreichen.
Als sie die Röte auf ihren Wangen spürte, weil ihr sein Lächeln so durch und durch ging, wandte sie sich hastig ab und gab vor, in der Plastiktüte aus dem Supermarkt etwas zu suchen.
Dann zog sie zufrieden eine kleine Kartonschachtel heraus.
„Lass uns auf dem Weg nach Reykjavík diese Schokoladenrosinen testen.“
Sie öffnete die Packung und hielt sie dem Isländer unter die Nase.
Beherzt griff dieser hinein und liess eine Hand voll in seinem Mund verschwinden.
„Na dann, los. Die Hauptstadt wartet auf uns.“
Er startete das rote Ungetüm und lenkte es zurück auf die Strasse.
Dass Halli sein Auto parkierte, nahm Kristín nur unbewusst wahr.
Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf die riesige Kirche gerichtet, die der Isländer ihr unbedingt zeigen wollte.
„Und von da oben kannst du wirklich die ganze Stadt sehen?“, fragte sie ungläubig und drehte ihren Kopf so, dass sie die Kirchturmspitze durch das Autofenster sehen konnte.
Halli gluckste vergnügt, als er die Frau auf dem Beifahrersitz betrachtete und öffnete die Autotür.
„Na los, steig aus und lass mich es dir zeigen.“
Und ehe Kristín etwas darauf erwidern konnte, hastete sie bereits schon wieder hinter dem grossen Mann her, der unter all den Touristen verschwunden war.
Doch mitten auf dem Platz musste sie stehen bleiben und den Anblick des Bauwerks auf sich wirken lassen.
Noch nie hatte sie eine Kirche wie diese gesehen.
Sie schien aus lauter kleinen Säulen zu bestehen und als die junge Frau ihren Blick nach oben zu dem Kreuz auf der Spitze richtete, kam sie sich unglaublich klein vor.
Eine Windböe wehte ihr ins Gesicht und erinnerte sie daran, dass ihre Kleidung wohl nicht geeignet für eine Reise auf Island war.
Und so beeilte sie sich, zu Halli aufzuschliessen.
Erst in der Halle fand sie ihn wieder und bemerkte amüsiert, wie sich immer wieder Köpfe nach dem rothaarigen Isländer umdrehten.
„Ich habe uns bereits Tickets für unsere Reise nach oben besorgt.“, grinste er und hielt sie ihr vor die Nase.
„Aber als Erstes musst du dir die Kirche von innen ansehen. Lassen wir den grössten Teil dieser Leute hier zuerst mit dem Aufzug nach oben fahren. Die schauen uns schon nichts weg.“
Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Menschenmenge, die sich vor dem Aufzug dicht an dicht drängte.
Jeder wollte der Erste sein, der mit seinem Fotoapparat ein Bild von der Stadt schoss.
Kristín schmunzelte belustigt und wandte sich wieder dem grossen Mann an ihrer Seite zu.
„Das Aussehen dieser Kirche ist sehr speziell...“
Genau wie in dem Moment, als er ihr den Suzuki vorstellte, reckte Halli nun seine Brust erneut stolz nach vorne.
„Sie ist schön, nicht wahr? Die Säulen spiegeln einen Teil unserer isländischen Natur wider. Sie sind Basaltsäulen nachempfunden. Vielleicht ergibt sich ja eine Gelegenheit für uns, in der ich dir die Echten näher zeigen kann.“
Dann suchte er wie selbstverständlich ihre Hand und zog sie durch die Menschenmassen hinter sich in den Bauch der Kirche hinein.
Kristín war völlig gebannt von der Magie und der Anziehung, die in dieser Kirche herrschte.
Die Ruhe und die Andacht, mit der die Menschen sich in ihr bewegten.
Und über all dem stand da dieser Riese von Mann, der ihr leise flüsternd, aber mit eindeutigem Stolz in der Stimme, die Geschichte dieses Bauwerks näher brachte.
Als sie ihren Blick einen Moment durch den Raum schweifen liess, bemerkte sie belustigt, dass längst nicht nur sie seinen Erzählungen folgte.
Die Leute scharten sich um den Isländer und hingen an seinen Lippen, um ja kein Wort über den historischen Hintergrund der Kirche zu verpassen.
Kristín jedoch zog sich langsam aus der Menschenansammlung zurück und setzte sich auf eine der Bänke, um etwas für sich zu sein.
Ihre Hand wanderte in ihre Jackentasche und zog das Foto heraus.
Lange betrachtete sie es und versuchte verzweifelt, sich an irgendetwas zu erinnern, was ihr Vater gesagt haben könnte, was ihr helfen würde, ihre Schwester und ihre Mutter zu finden.
Warum hatte sie seinen Schwärmereien für die Insel nicht mehr Beachtung geschenkt?
Warum war sie nicht an seiner Seite sitzen geblieben, statt aufzustehen und das Wohnzimmer zu verlassen, wenn im Fernsehen ein Dokumentarfilm über Island kam?
Warum hatte sie ihn nie nach der Herkunft seines Pullovers gefragt, statt ihm vorzuhalten, wie schrecklich der aussähe?
Warum hatte sie nie hinterfragt, dass da noch etwas sein könnte, ein Geheimnis, ein anderes Leben, wenn er seine Zeit wieder auf den Dachboden verbrachte?
Warum?
Das Foto verschwamm vor ihren Augen, doch sie klammerte sich weiter daran fest.
Es war das Einzige, was ihr Halt gab.
Plötzlich erschien eine grosse Hand in ihrem Blickfeld und als sie ihren Kopf hob, um zu Halli aufzusehen, lächelte er warm und einladend.
Er hatte ihre Tränen bestimmt bemerkt, auch sein Seitenblick auf die Fotografie in ihren Händen war ihr nicht entgangen, aber er stellte keine Fragen.
Und im Stillen war sie ihm dankbar dafür.
„Komm. Die Zeit ist günstig, nach oben zu fahren. Ich habe die Meisten etwas abgelenkt…“
Sie sah ihn fragend an, ergriff jedoch seine Hand und liess sich auf die Beine ziehen.
Einen Moment berührten sich ihre Körper, dann trat Halli einen Schritt zur Seite und gab ihr ein Zeichen, voranzugehen.
Verwundert betrachtete sie im Vorbeigehen die hochkonzentrierten Gesichter der Touristen, die nun ihre Blicke auf die grosse Orgel gerichtet hielten und es schien ihr, als würden sie leise zählen.
Sie drehte sich zu Halli um, der sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht animierte, weiter zu gehen.
„Ich erklär es dir gleich.“
Als sie den Lift erreichten, öffnete sich gerade die Tür und eine Traube Menschen drängte nach draussen.
Halli schubste sie regelrecht in den leeren Lift hinein und es schien ihr, als machte er sich extra breit, dass ja keiner auf die Idee kommen sollte, mit ihnen gemeinsam nach oben zu fahren.
Seine Taktik schien aufzugehen, denn als sich die Lifttüren schlossen, waren sie noch immer allein.
Sie suchte seinen Blick und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
„Also? Was hast du denen erzählt?“
Er lachte sein tiefes Lachen.
„Ich habe ihnen eine Aufgabe gegeben…“
„Eine Aufgabe?“, fragte sie misstrauisch, verschränkte die Arme vor ihrer Brust und lehnte sich etwas zurück, um ihn besser im Auge behalten zu können.
„Was genau verstehst du unter einer Aufgabe?“
Er lachte erneut.
„Sie zählen die Orgelpfeifen.“
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