„Na los, komm her und steig ein. Er beisst dich nicht und ich verspreche dir, dass er sich benehmen wird.“
Die junge Frau schüttelte belustigt den Kopf und kam näher, den Blick immer noch misstrauisch auf den roten Suzuki gerichtet.
„Augnablik…“, rief Halli plötzlich, als sie gerade neben ihn trat.
Er kletterte ins Auto und man konnte hören, wie einige Dinge auf dem Rücksitz landeten.
Kristín wagte einen Blick durch die Scheibe, um zu sehen, was vor sich ging.
Der Isländer war geschäftig dabei, eine Unmenge an leeren Flaschen, Plastiktüten und Getränkedosen auf dem Rücksitz und in dessen Fussablage zu verstauen.
Leicht verlegen kratzte er sich am Kopf, als er wieder auftauchte und ihr nun mit einer einladenden Geste den Beifahrersitz anbot.
„Tut mir leid.. Ich war nicht auf eine Mitfahrerin vorbereitet. Hab nicht aufgeräumt…“
Kristíns Blick glitt über das Chaos auf der Rückbank, als sie sich auf den Sitz fallen liess, doch sie sagte nichts.
Stattdessen lächelte sie still in sich hinein, als sie dem grossen Mann dabei zusah, wie er sich behände auf den Fahrersitz gleiten liess und den Schlüssel ins Schloss steckte.
Sein Gesicht strahlte vollste Konzentration aus, als er den Motor startete.
Würde es peinlich werden?
Oder bewies der Gute vierrädrige Begleiter Anstand in Gegenwart einer schönen Frau?
Der Geländewagen sprang knatternd an und Halli atmete erleichtert aus.
„Guter Junge. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann…“
Erneut wurde Kristín Zeuge davon, wie der Isländer lobend den Suzuki tätschelte, dieses Mal jedoch weniger kraftvoll.
Es war eher ein Streicheln des Armaturenbrettes.
Doch die junge Frau nahm es belustigend zur Kenntnis.
„Áfram... Bist du bereit, Kristín?“
Halli wandte sich ihr zu, als er den Gang einlegte und die Handbremse des Wagens löste.
Sie suchte in ihrer Jackentasche nach dem Foto.
Als sie es zwischen ihren Fingern spürte, begegnete sie dem Blick des Isländers.
Dann nickte Kristín zustimmend.
„Ich bin bereit.“
Ihre Augen trafen sich einen Moment länger als nötig.
Dann rollte der Rothaarige den Wagen zielsicher über den Parkplatz Richtung Ausgang.
Zerklüftete, moosbewachsene Felder, die verschiedensten herbstlichen Farben und die unendliche Weite des Landes zogen Kristín in ihren Bann, während Halli sicher und ruhig das Auto auf der Strasse hielt.
Immer wieder warf er ihr einen kleinen Seitenblick zu und lächelte warm und belustigt über ihre Faszination, doch sie bemerkte es nicht.
Erst, als wieder vermehrt Häuser in Sichtweite kamen, wandte sich Kristín dem Fahrer zu.
„Wohin fahren wir eigentlich?“
Halli grinste breit und deutete auf seine Tankanzeige.
„Wir sollten wohl als Erstes eine Tankstelle ansteuern. Der gute Junge hat Durst.“
Wie um seine Worte zu unterstreichen, verliess er die Strasse nach links und fuhr auf einen grossen Platz, auf dem sich eine Tankstelle und ein Supermarkt niedergelassen hatten.
Zielsicher steuerte er die letzte freie Tanksäule an, schaltete den Motor aus und öffnete die Fahrertür.
Doch er stieg nicht gleich aus.
Halli begann erneut wie bereits auf dem Flughafenparkplatz, in den Tiefen seiner Jackentasche zu wühlen.
Dann beförderte er ein Handy ans Tageslicht, das dem Zustand des Autos in Nichts nachstand.
Er grinste schief, als er ihren skeptischen Blick bemerkte.
„Nicht mehr das neueste Modell, aber es erfüllt seinen Zweck.“
Er drehte den Autoschlüssel etwas im Schloss und fummelte am Radio herum.
Plötzlich erklang leise Musik.
„Du entschuldigst mich, Kristín? Ich tanke das Auto und erledige noch kurz einen Anruf. Wartest du hier drin?“
Doch wirklich Zeit, zu antworten, liess er der jungen Frau nicht.
Er drehte die Musik lauter und mit dem Zuknallen der Tür war er auch schon am hinteren Teil des Autos verschwunden.
Sie konnte hören, wie er am Tankdeckel herumschraubte und einen Moment später sprang die Säule an und begann das Benzin in den Suzuki zu pumpen.
Kristín drehte die Musik wieder etwas leiser und konnte nun deutlich hören, wie Halli ein angeregtes Telefonat führte.
Einen Moment war sie versucht, ihn auf das Schild „Telefonieren verboten“ aufmerksam zu machen, dann überlegte sie es sich jedoch anders, als ihr zwei weitere Isländer auffielen, die sich ebenfalls nicht um diese Tafel zu kümmern schienen.
Wofür ein Verbots-Schild, wenn sich doch keiner dran hielt?
Verständnislos schüttelte sie den Kopf.
Dann konnte sie deutlich ihren Namen hören.
Halli war immer noch in ein angeregtes Gespräch vertieft.
Sie konnte durch den Rückspiegel erkennen, wie er aufgebracht hinter dem Auto hin und her lief.
Mit wem sprach er wohl?
Doch weiter kam sie mit ihren Gedanken nicht, denn der Isländer beendete das Telefonat abrupt, klapperte erneut mit dem Tankdeckel und trat wieder neben die Fahrertür.
Als er diese öffnete, war die Verärgerung aus seinem Gesicht verschwunden und er lächelte sie schelmisch an.
„Na, hast du Durst? Wir könnten uns hier mit etwas Proviant eindecken.“
Halli deutete in Richtung Supermarkt.
Kristín nickte zustimmend.
„Das ist eine gute Idee. Mein Magen könnte nach dem Flug eine Kleinigkeit vertragen.“
Erneut knallte Halli seine Tür zu, setzte sich zurecht und startete dann den Motor.
Dann lenkte er den Suzuki auf einen Parkplatz und kam dann um das Auto herum auf ihre Seite.
Wie ein Gentleman hielt er ihr die Hand hin.
Seine Hand war gross und rau, als er ihr aus dem Auto half und hielt sie einige Sekunden länger als nötig.
Dann ging er eilig voraus und sie betraten gemeinsam den Supermarkt.
Als sie wieder ins Auto einstiegen, war jeder mit einer Tüte vollgepackt, die zum Bersten gefüllt war mit Kleinigkeiten, bei denen Halli angemerkt hatte, die müsste sie unbedingt einmal in Island gegessen haben.
Kristín war so belustigt über die Art, wie er sie durch den Supermarkt lotste, dass sie mit einem leichten Lächeln auf den Lippen alles in den Einkaufswagen packte, was er ihr begeistert in die Hand drückte.
Jetzt sassen sie beide draussen im Auto, jeder eine Flasche Limonade zwischen die Beine geklemmt und bissen hungrig in ihre belegten Brote.
„Was hältst du davon…“, schmatzte Halli, schluckte geräuschvoll und spülte mit einem Schluck Limonade nach, ehe er sich ihr zuwandte.
„… wenn wir unsere erste Nacht in Reykjavík verbringen?“
Kristín verschluckte sich beinahe an ihrem Sandwich, als ihr die Zweideutigkeit dieses Satzes bewusst wurde.
Als sich ihr Hustenanfall wieder beruhigt hatte, begegnete sie dem schelmischen Blick des Isländers.
„Unsere erste Nacht?“, lachte sie und trank erneut einen Schluck aus der Flasche.
„Werden denn noch viele folgen?“
Sie bemerkte die Verlegenheit in Hallis Gesicht, als er ihr antwortete.
„Ich kann es dir nicht sagen, Kristín. Kommt darauf an, wie schnell wir deine Schwester finden. Und auch wo genau sie hier auf Island lebt.“
Er suchte ihren Blick.
„Du hast wirklich keine weiteren Hinweise? Nur dieses Foto?“
Kristín schüttelte traurig den Kopf.
„Nein, leider nicht. Nur die Namen Sigrún und Guðrún und dieses alte Foto.“
Sie war sich im Klaren darüber, dass sie die Namen völlig falsch aussprach, schliesslich hatte sie keinerlei Kenntnisse über die isländische Sprache, aber der Isländer verstand sie trotzdem.
„Sigrún...“, ,wiederholte Halli abwesend und schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein.
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