„Also ist dieser Ort hier mit Bedacht gewählt worden? Denken Sie, dass hier ist auch der Tatort?“, wollte jetzt Klauk wissen. „Das müssen uns die Herrschaften in Weiß beantworten“, sagte Vandenbrink und gab dem Tatortermittler ein Zeichen, weiterzuarbeiten. Sie traten ein paar Meter zurück.
„Und wenn es nicht die Albaner waren?“, fragte Meinhold. Vandenbrink presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Dann waren es die Jungs von der Motorrad-Fraktion. Das wäre auch eine Möglichkeit. Sie machen einen kalt, sehen zu, wie sich die Banden bekriegen und sahnen dann ab. Aber die sind hier in Bonn noch nicht so breit aufgestellt, dass sie sich mit den großen Banden anlegen könnten.“
„Aber nach einem Bandenkrieg wären sie es?“, fragte Klauk.
„Ja, das wären sie wohl. Wenn diese beiden Clans aufeinandertreffen, dann fliegen die Fetzen“, versetzte jetzt der Drogenfahnder, dessen Stimme auf einmal viel düsterer klang. Diese Möglichkeit schien auch ihm plausibel.
Meinhold sah sich um. Die Gegend war ideal, um einen Mord zu begehen. In zweihundert Meter Entfernung lag der ‚Annaberger Hof‘. Die Straße von Friesdorf aus, die dorthin führte, war für den Durchgangsverkehr gesperrt. Einzig diejenigen, die zum Gestüt ‚Annaberger Hof‘ wollen, durften die ‚Durchfahrt verboten‘-Schilder ignorieren. Die Annaberger Straße kreuzte den Rheinhöhenweg. Dieser Weg war ein beliebter Wanderweg, in der näheren Umgebung lagen eine Klinik und das ‚Annaberger Haus‘.
„Was hat dieser Mladic hier gewollt? Oder denken Sie, dass der Mord woanders verübt wurde und man den Wagen hier platziert hat?“
Vandenbrink lächelte Meinhold an. „Daher seid ihr beiden hier. Ich kann euch nur die Hintergrundinformationen liefern.“
„In Ordnung“, sagte Meinhold, und an Klauk gewandt, sagte sie: „Wir müssen die Leute von diesem Gestüt befragen, ob sie etwas beobachtet haben, wissen, seit wann der Mustang hier steht. Außerdem sollten wir eine Verlautbarung an die Presse herausgeben mit einer Frage an die Bevölkerung: Wer hat gestern zur möglichen Tatzeit hier etwas beobachtet?“
„Dafür müssen wir erst wissen, wann unser Mustang-Fahrer hier das Zeitliche gesegnet hat. Wo bleibt eigentlich die Rechtsmedizin? Die wissen doch Bescheid?“, wandte sich Klauk an den Drogenfahnder. Vandenbrink nickte.
„Es passieren eine Menge schlimmer Dinge in Bonn und ich denke, wir stehen am Anfang einer neuen Welle der Gewalt. Die ganz schlimmen Dinge hinterlassen einen Abdruck in der Geschichte der Stadt. Wenn wir nicht aufpassen, dann stehen wir am Rand und schauen hilflos zu.“
Meinhold sah zum ihm hinüber. „Klingt fast philosophisch.“
„Die Betrachtung der Welt in all ihren Facetten ist mein Hobby. Wenn man den Sumpf der Gesellschaft ständig vor Augen hat, dann ist man froh, wenn man mal ein wenig Erhebendes lesen kann. Ich lese gerne philosophische Texte, vielleicht färbt das etwas ab.“
„Ein Philosoph und eine Profilerin, wenn das kein geniales Team ist“, spottete Klauk.
Vandenbrink riss die Augen auf. „Profilerin? Sie sind das? Von der im Präsidium hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird?“
„So! Ist das so?“, fragte Meinhold verstimmt mit einem kurzen Blick in seine unglaublich kalten Augen.
„Naja, ist vielleicht meine persönliche Interpretation. Aber in aller Munde sind Sie schon, Frau Meinhold.“
Meinhold sah ihn erst ungläubig an, dann fand sie ihre Haltung wieder. „Ich bin nur eine Spezialistin, ansonsten bin ich eine ganz normale Kriminalbeamtin.“
Ohne seine Antwort abzuwarten, machte sie eine energische Kopfbewegung und deutete Klauk damit an, ihr zu folgen. „Wir kümmern uns um die Leute auf dem Gestüt, es dauert ja anscheinend noch, bis die Rechtsmedizin hier aufschlägt. Wenn es so ist, dass wir wenig Zeit zu verlieren haben, dann sollten wir schnell arbeiten.“
Vandenbrink blieb wortlos zurück und sah den beiden Beamten nach.
*
Bonn
„Du bist der Boss“, sagte Rosin gleichmütig.
„Was? Denkst du, wir sollten uns anders aufstellen? Haben wir etwas vergessen?“, erwiderte Wendt und ließ ein Räuspern hören.
„Die Personenfahndung ist raus, wir haben die Flughäfen und größeren Bahnhöfe informiert, die Kollegen von der Bundespolizei sind im Bilde. Uniformierte Kollegen sind unterwegs und befragen die ehemaligen Nachbarn der Baums. Mehr können wir im Moment nicht tun“, resümierte Rosin und trat an die Glaswand heran, an der das Fahndungsfoto von Ron Baum klebte. Das Foto war in der Klinik aufgenommen und zeigte ihn in Anstaltskleidung.
„Ich dachte, dieses Arschloch sehen wir nie wieder!“ Ihre Worte klangen bitter.
„Ja, allerdings. Aber wir werden ihn schnappen, bevor er etwas anrichten kann.“ Sein Mienenspiel ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommen.
„Aber irgendetwas gefällt dir doch nicht, Lea. Raus damit!“
„Mir gefällt es nicht, dass wir unseren Job machen und einen Psychopathen hinter Gitter bringen und diese Pappnasen in der Klinik lassen ihn bei der nächsten Gelegenheit flitzen. Das gefällt mir ganz und gar nicht.“
Mit einer schnellen Bewegung drehte sie sich um. „Und wenn er Hilfe in der Klinik gehabt hat? Wenn er einen der Wärter dort bestochen hat? Wie kann einer in einer Wäschekiste entkommen? Wer hat ihn dort eingeteilt? Wir müssen uns dort umsehen und die Klinikleitung sowie die Angestellten befragen. Und seinen Zellenkollegen ebenfalls, falls er einen hatte. Was meinst du? Bevor wir hier herumsitzen?“
„Wie, jetzt gleich auf der Stelle?“, fragte Wendt überrascht.
„Ja, ich kann auch alleine fahren, aber vier Ohren hören mehr als zwei, oder?“
„Guter Plan. Ich werde Hansen und Retzar informieren“, sagte Wendt und griff zum Telefon.
*
Geistesabwesend schaute Oberstaatsanwältin Brigitta Hansen aus dem Fenster ihres Büros hinaus, dorthin, wo hinter den vielen Neubauten, die in der letzten Zeit aus dem Boden geschossen waren, der Rhein ruhig in seinem Bett dahinfloss. Ruhe. Das wünschte sie sich an diesem Morgen ebenfalls. Sie hätte ohne mit der Wimper zu zucken diesen Tag nicht weiter in ihrem Büro verbracht. Doch sie konnte nicht. Stattdessen drehte sie sich langsam herum und widmete sich wieder der Polizeipräsidentin Bettina Keller-Schmitz.
„Es geht hier um Wichtiges, Frau Polizeipräsidentin. Es geht um Strukturen, die seit Jahren gewachsen sind. Es geht um Teams, die eingespielt sind und die ganz hervorragende Arbeit leisten. Es geht um Menschen, die miteinander arbeiten und es so gewöhnt sind.“
Bettina Keller-Schmitz betrachtete sie argwöhnisch. „Gewohnheit ist die schlimmste aller Sünden, jedenfalls, wenn es um moderne Polizeiarbeit geht. Wir leben in einer Zeit, die alle diejenigen, die sich allzu sehr in ihren Wohlfühl-Areas eingerichtet haben, aufrütteln wird. Und eben genau deshalb bin ich jetzt hier. Alte Strukturen sind gut, aber woher will man wissen, dass neue Strukturen nicht viel besser funktionieren? Können Sie das bestreiten, Frau Hansen?“
„Nein, sicherlich nicht. Unsere Zeit ist in einem stetigen Wandel.“
Die Polizeipräsidentin schob ihr eine Akte zu, die sie die ganze Zeit vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte. „Hier, schauen Sie bitte.“
Hansen näherte sich dem Schreibtisch und las den in einer feinen und akkuraten Handschrift auf dem Deckblatt vermerkten Namen. Versuchte ihren Schrecken zu verbergen. Sie glaubte, es würde ihr gut gelingen. Keller-Schmitz sah sie forschend an. In ihren Augen blitzte etwas Gefährliches auf.
„Dieser Kommissar Hell ist seit mehreren Monaten außer Dienst. Er treibt sich irgendwo im Ausland herum und kuriert eine ominöse Krankheit aus. Er soll an eine Depression leiden, ausgelöst durch ein nicht ordentlich auskuriertes Burn-out. Es gibt einen ärztlichen Befund. Und diesen Befund hat eine Frau mit dem Namen Dr. Franziska Leck ausgestellt, die meinem Wissen nach die Geliebte dieses Kommissars ist. Ich sehe das so: hier ruht sich ein Staatsdiener auf Kosten des Staates aus und führt dieses Präsidium an der Nase herum. Und wenn ich weiterhin richtig informiert bin, dann geschieht das mit Ihrem Wissen und Gutdünken, Frau Oberstaatsanwältin Hansen. Ich hätte gerne Ihre Stellungnahme dazu. Hier und jetzt.“
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