1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 So was von wertvoll waren früher ein Paar handgefertigte Schuhe, dass sie nicht selten vererbt worden sind. Es ist eine anstrengende, schweißtreibende Arbeit, welche dem Dorf-Schuhmacher Sachs trotzdem nur ein bescheidenes, aber für die Zeit um 1920/30 vergleichsweise sicheres Einkommen bescherte. Er ist ein angesehener Mann im Ort, denn genau wie sein berühmtes Vorbild aus Nürnberg verfasst Hans Gedichte über sein geliebtes Erzgebirge. Er hat sich aber auch selbst und sein Handwerk mit ein paar Zeilen gewürdigt:
Den Mann, der Schuhe machen kann,
den hat man Grund zu lieben.
Denn hat man keine Schuhe an,
dann käm man schnell zum Liegen.
Man hätte Husten, Schnupfen, Weh,
und manchmal schmerzt der große Zeh.
Drum achtet drauf und seid gescheit,
kauft gute Schuhe, liebe Leit!
Bruno ist ein freundlicher, uriger Verkäufer. Da kommt ihm seine Vergangenheit als Bergmann zugute. Er kam in erzgebirgischer Tracht daher–das mögen die Marktbesucher. Und er macht Musik auf dem Akkordeon oder der Mundorgel. Es regt zum Kauf an, besonders, sobald das Wetter mitspielt und die Berge tief verschneit sind. Konkurrenzdenken unter den Händlern gibt es aber auch, und innovative Ideen schaut man sich gelegentlich bei anderen Marktbeschickern ab.
»Joseph, gieh do eemol lunsn, wos de Adelbacher hot«
»eija, de hot orchveel gudde neie Zeich, abr de Küppner vu Olbrhaa......dos Gelump braucht keenr meh. ...«
Die Verkaufstouren sind zwar stets mit erheblichen Kosten und körperlichen Anstrengungen verbunden, doch sobald die handwerklich gefertigten Werke verkauft worden sind, hat sich der jährliche Aufwand gelohnt. Dann wird der Heiligabend sehnsüchtig in den erzgebirgischen Stuben erwartet. Das Holzfeuer knistert, Tannenduft zieht durch die Behausung und man freut sich auf das traditionelle 'Neinerlei', die Suppe vor der Bescherung.
Die Epoche der Weimarer Republik nahm ihren Anfang im November 1918 nach Beendigung des Ersten Weltkrieges. Der Kaiser musste abdanken, Parteien von rechts und links drängten zur Macht, Deutschnationale, Gemäßigte und Kommunistische. Es sind bange, angsterfüllte Zeiten, methodische Morde an Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und vielen anderen grassierten. Dazu kam die galoppierende Inflation, später Hyperinflation, bei der es bis 1923 einen Werteverfall der Reichsmark von 32.400 % pro Monat gab. Damit konnte der Normalbürger nicht mehr rechnen. Es kam wie im frühen Mittelalter wieder zur Tauschhandelswährung. Ende des Jahres 1923 hatte die Währung nur noch einen Wert von 1.000.000.000.000. zu 1, bis durch eine Währungsreform verhältnismäßig normale Verhältnisse eintraten.
Grynszpans kamen von den Weihnachtsverkäufen manchmal mit Kartoffeln, Brot und lebenden Hühnern nach Hause. Zur Ergänzung des eigenen Anbaus im kleinen Hausgarten sicherte das ein kärgliches Überleben. In der größten Krise hatten sie ausgesprochenes Glück. Eine aristokratische Familie, aus vergangenen Zeiten nicht unvermögend, bot Wertgegenstände zum Tausch an, nur weil diese Hochnäsigen unbedingt erzgebirgische Handwerkskunst erwerben wollten. Doch wie sollte Bruno das Meißener Porzellan unbeschadet nach Rübenau bringen? Darüber hat er sich mit seinen Söhnen lange den Kopf zerbrochen.
Es sind für die meisten Zeitgenossen schwer zu ertragende Lebensumstände in den ersten Jahren der Republik, doch es gibt immer auch Kriegsgewinnler. Bekannte Fabriken, auch gewiefte Händler, die es verstanden, egal wie, an benötigte Waren zu gelangen, gibt es oft. Unter dem Ladentisch verborgen finden sich Sachen, an die nicht jeder herankommt.
Nur Anton in der Waffen- und Nagelschmiede sah ein kleines Licht am Ende des Tunnels. Im Hammerwerk, wo er seine Lehre als erstklassiger Handwerker abgeschlossen hat. Nägel jeglicher Art, aber zunehmend auch Jägerwaffen, wurden zu gefragten Produkten. Wilderer hatten Hochkonjunktur.
Anton trug zum Überleben der Familie bei, weil er ja weiterhin zu Hause bei den Eltern wohnt. Die Grynszpans vertreten ein besonderes soziales Verständnis. Wenn sie etwas erübrigen konnten, dachte man an noch weit ärmere Dorfbewohner und gab, was entbehrlich war. Kirchlich engagierte man sich ebenfalls, denn vor allem Judith vertrat die Überzeugung, dass ihre erträgliche Situation mit ihrem festen Glauben in Zusammenhang steht.
Es war die schwerste Zeit der Weimarer Republik, als eine Papiermark weniger als 10 Millionen wert ist. Täglich stieg die Inflation, ein Brot zu kaufen war fast unerschwinglich. Der höchste Minuswert einer Geldnote wurde mit der Ausgabe eines Geldscheines von 100 Billionen Mark 1923 erreicht.
Jeder, der etwas besaß, handelte in Naturalien. Aber nicht alle Menschen verfügten über Wertsachen, die man eintauschen kann, und so verarmten viele Städte und ganze Landstriche. Hungernde überlebten nur mit Essen aus den Armenküchen, und mancher Verzweifelte in den Großstädten sah nur einen Ausweg mit einem Strick um den Hals.
Anton fürchtete in dieser Zeit, arbeitslos zu werden und dann keinen Unterhalt für die Hausgemeinschaft mehr leisten zu können. Doch mit Prädikat-Abschluss des Prüfungsstückes, das er gefertigt hatte, war er eine Fachkraft, auf die man keinesfalls verzichten mochte. Er wird als Geselle in die Betriebsgemeinschaft übernommen. Familie Grynszpan belastet eine Sorge weniger.
Antons Gesellenstück ist ein künstlerisch gestalteter, handgeschmiedeter Schmucknagel. Und ein Gewehr, dessen Patronenlager und die Laufseele bis auf eintausendstel m/m genau geschliffen und poliert sein muss, gehört gleichfalls zur Prüfungsaufgabe. Er bekam auf beide Arbeiten die Höchstnote 'besser als gut. ' Das ist eine besondere Auszeichnung.
Die Inflationszeit endete nur schleppend. Der Umtausch der Papiermark in neue Reichsmark fand am 15. November 1923 statt, doch das funkelnagelneue Geld wurde erst anerkanntes Zahlungsmittel, als ihm wieder reale Werte gegenüberstanden. Die Wirtschaftsleistung in der Republik begann sich zwar zu erholen, aber der Mittelstand war nachhaltig verarmt. Alles sind die Folgen des 1. Weltkrieges.
Erst ab Mitte 1924 bemerkte man einen leichten Wirtschaftsaufschwung, doch es gab große regionale Unterschiede. Die Hansestädte Bremen und Hamburg profitierten vom beginnenden Aufschwung als . Steigender Im- und Export brachte Wachstum, zuletzt folgte die Industrieregion des Ruhrgebietes, denn durch revolutionäre Aufstände von links- und rechtsgerichteten Parteien war die Region lange gelähmt. Arbeiterräte übten dort Regierungsgewalt aus.
In Thüringen und Sachsen, die als zwei der 26 deutschen Regionalstaaten dem Staatenbund angehörten, besserte sich die Wirtschaftslage ebenfalls langsam. Die Menschen kamen schleppend in Arbeit und Brot, man kaufte sogar Sachen, die nicht unbedingt zum Überleben notwendig sind. Vom Aufschwung profitierten die Familien Grynszpan in Rübenau und einige weitere Dorfbewohner. Man hoffte, in Zukunft wieder vermehrt erzgebirgische Holzschnitzkunst verkaufen zu können.
Rudolf arbeitet gerne im Büro des Bergbaumuseums Freiberg. Anders als Anton Grynszpan vermochte er aber kaum von der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung zu profitieren. Das mit Freuden begonnene Selbststudium der mittelalterlichen- und heutigen deutschen Geschichte brachten ihm keine Vorteile. Er ist nur mit der Verwaltung des umfangreichen Fundus des Museums beschäftigt. Auch Neuausrichtungen von Ausstellungen im Hause gehören zu seinem Aufgabengebiet. Besonderes Geschick besitzt er darin, Abläufe planen und durchzuführen zu können.
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