1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 Die Umstände, weshalb Lotte sich von ihrer Familie entfernte, war der Freitod der Mutter. Es wird ernsthafte Zerwürfnisse zwischen dem Vater und seiner Frau gegeben haben, indes, die Gründe spricht sie nicht an, kannte wohl selber nicht alle Interna der Tragödie. Jedenfalls lebt sie seit längerer Zeit in dieser sächsischen Stadt, trifft die Liebe ihres Lebens und versucht so, die schrecklichen Familienerlebnisse zu vergessen.
Lotte und Rudi, wie sie ihn bald nennt, freuen sich auf jedes Wiedersehen. Aber es ist stets mit Kosten für die Bahnfahrt verbunden, und deshalb konnten die Treffen nicht allzu oft stattfinden. Doch es gab ja die Deutsche Reichspost, die Briefe zuverlässig und pünktlich zustellte. Streiks und Arbeitsniederlegungen sind nicht erlaubt, denn Postbedienstete sind Beamte in Uniformen, also Respektspersonen. Und die haben kein Streikrecht. Es ist immer eine Freude, stets inniger werdende Zeilen im Kasten zu finden. Wenn ein Rendezvous bevorsteht, sind die Entflammten enthusiastisch und aufgeregt. Jeder versucht, dem anderen eine unverhoffte Überraschung zu bereiten.
Die Alltagsanforderungen werden keinesfalls vernachlässigt. Lotte schreibt fleißig Rechnungen und verbucht Geldeingänge, R.H. kümmert sich um die Museumsbelange. Er ist aber brennend auch an den politischen Entwicklungen interessiert und verfolgt mit gewisser Sorge, wie die Parteien sich verbal und herausfordernd bekämpfen. Morde unter Andersdenkenden gibt es fast täglich. Matthias Erzberger und Walter Rathenau waren prominente Opfer von Gewaltverbrechen, auch Rosa Luxemburg und Walter Liebknecht. Viele weniger bekannte Personen sind gleichfalls durch Fememorde ums Leben gekommen. Walter Kadow, Erich Pannier, Angehöriger der schwarzen Reichswehr in Döbberitz, Walter Wilms, Feldwebel, oder Karl Bauer, Student, um nur einige aufzuführen. Insgesamt sind in den zehn Jahren von 1919 bis 1929 mehr als 400 politisch bedingte Ermordungen verübt worden. Man lebte also erheblich gefährdet, wenn man sich in einer Partei engagierte und bei seinen Gegnern auf Widerstand stieß. Es wurde nicht lange gefackelt. Auftragsmörder finden sich gegen gutes Entgelt immer. Und die Meuchler waren erfinderisch in ihren Methoden. Einige killten mit schalldämpfenden Pistolen, andere hantierten mit Strychnin, Zyankali oder Blausäure, die sie ihren Beuten unbemerkt in Weingläser träufelten. Es gab auch Perfide, die mit Hanfstricken und feisten Händen ihre Opfer erdrosselten.
R.H. machte sich Gedanken über die vielen Organisationen, die in den letzten Jahren gegründet worden sind. Jede hat ihr besonderes Programm, alle geben vor, nur das Beste für das deutsche Volk zu vorzuhaben. Meist waren es aber nur Eigeninteressen, ließ die Parteien Vorteile nur für ihre eigenen Mitglieder herausholen. Es wurde versucht, durch vorgeblich demokratische Wahlen in die Parlamente und an`s Geld zu kommen.
Einige Parteien übten mit paramilitärischen Untergruppen Druck auf Andersdenkende aus. Dabei war auch die SA mit ihren spektakulären Aufmärschen und Schlägertrupps. Es wurde vorgetäuscht, germanisches Volksgut nur so schützen und erhalten zu können. Leider verfing das bei manchem der hungernden Zeitgenossen. Mit dem Winterhilfswerk der NSDAP wurden die Massen gefangen. R.H. verlor darüber den Durchblick. Und viele andere ebenso.
Rudolf fühlt sich innerlich zerrissen. Er liebt seine Lotte, beide dachten bereits jetzt an eine gemeinsame Zukunft. Die zunehmende Gewaltbereitschaft unter den Parteien und deren Anhängern bereitete den Verliebten aber Sorgen. Sollten sie sich um das Parteiengezänk nicht kümmern, oder müssten sie um des eigenen Vorteils willen sich ebenfalls parteipolitisch für eine Richtung entscheiden? Doch welche Strömung ist die Richtige angesichts der Vielzahl von Organisationen? Wer behält da den Überblick und vermag die Zielsetzungen gegeneinander abzugrenzen?
27 Fraktionen waren 1927 im Reichstag vertreten. Da ist Parteiengezänk vorprogrammiert und ein erfolgreiches Regieren nahezu unmöglich. Es gab Streitereien und wüste Beschimpfungen unter den Volksvertretern und Abgeordnete, die im Parlament mit Knüppeln auf ihre Gegner losschlugen. Jede dieser vielen Parteien hat ihre eigenen Vorstellungen und Programme. So ist ein dem ganzen Land dienendes Konzept schwerlich zu realisieren.
Die Spätfolgen des verlorenen 1. Weltkrieges sind die Reparationszahlungen, welche der Weimarer Republik auferlegt wurden. Die zersplitterte Parteienlandschaft ließ dieses Nachkriegsstaatsgebilde in eine erneute Rezession taumeln. Die relativ günstige Wirtschaftslage ab 1924 verschlechterte sich, und 1928 zogen am Wirtschaftshimmel wieder dräuende Wolken auf. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 sandte ihre Schatten voraus. Rudolf nahm das alles wahr, doch ein Rezept dagegen fanden er und Lotte nicht, obwohl das ein Teil ihrer Gespräche war.
Aber er fühlte sich betroffen, weil er sich ja seit langem mit der Entwicklung von politischen Zusammenhängen befasste. Er erinnerte sich stark an seinen Lehrer Böhm, dessen Thesen er nicht immer ganz nachvollziehen konnte. Jetzt wurde Rudolf mit der Wirklichkeit konfrontiert.
Die Siegermächte des Weltkrieges hatten dem durch Kapitulation entmachteten, abgedankten Kaiserreich zugestanden, ein Berufsheer für Verteidigungsaufgaben zu unterhalten. Eine Reichswehr aus 100.000 Landstreitkräften sowie 15.000 Marinesoldaten. Sollten die mit Lanzen auf mögliche Angreifer losgehen? Denn Kampfmittel wie Panzer, schwere Geschütze, eine Luftwaffe, Großkampfschiffe und U-Boote waren dem Heer verboten. Rudolf hätte gerne in Erfahrung gebracht, wie sich Böhm dazu stellen würde. Aber der Kontakt zu ihm war abgebrochen.
Diese zugestandene Streitmacht wurde von der sogenannten „Schwarzen Reichswehr“ unterlaufen. Die hortete im Verborgenen Waffen und Munition aus Restbeständen des Krieges in geheimen Lagern. Teilweise wurden die Aktivitäten von den westlichen Siegermächten toleriert, um so einem Vorrücken sozialistischer und kommunistischer Ideologien entgegen wirken zu können. Denn davor hatte der Westen Angst. Die Bestimmungen des Versailler Vertrages sind damit aber völkerrechtswidrig ausgehebelt worden.
Hatte Rudolf von diesen Abkommen Kenntnis? Wohl kaum. Die Kriegsfolgen, unter denen das deutsche Volk zu leiden hatte, hatte er nicht weiter studiert.
Im engeren Sinne zählten nur die Arbeitskommandos des Major Buchrucker zur schwarzen Reichswehr. Aber gleichermaßen die SA, die Sturmabteilung der NSDAP und des STAHLHELMS konnte man als revanchistisch ansehen. Die Sabotagetrupps der Organisation HEINZ im Ruhrgebiet kämpften gegen die französische Besatzung. Volkssportschulen mit angeblich vereinssportlichen Angeboten traten ebenfalls auf den Plan.
Es rumorte in Deutschland an allen Ecken und Enden gewaltig. Führer der paramilitärischen Gruppen, die teilweise gegensätzliche Interessen vertraten, sind in der labilen Republik nicht untätig. Die SCHWARZE REICHSWEHR wurde aufgerufen, sowohl den inneren Feind wie zusammen mit der Wehrmacht äußere Aggressoren zu bekämpfen. Ab 1923 wurde sie im Geheimen intensiv auf einen Konflikt gegen Frankreich vorbereitet.
Die Liebe des Rudolf zu seiner Lotte lässt ihn an der Wirklichkeit fast verzweifeln. Dass er durch eine Geschichtsbessenheit so den Faden verlieren kann, hätte er sich nie träumen lassen. Wie soll er sich verhalten angesichts der undurchsichtigen Parteienlandschaft?
Die unterschwelligen Tätigkeiten der verbotenen Organisationen sind dem normalen deutschen Volksgenossen unbekannt. Ebenso den Mitläufern in SA und dem STAHLHELM. Nur die Führungspersönlichkeiten, Großgrundbesitzer aus Ostpreußen und der Adel, sind involviert. Durch den KÜSTRINER PUTSCH und die Prozesse um die Fememörder kam jedoch ein gewisses Wissen unter die Bevölkerung, wodurch Begeisterung und Zustimmung ausgelöst wurde.
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