Das Klima im Reich wurde immer aufgeheizter, was sich Agitatoren wie SCHLEICHER, RÖHM und HITLER dann zunutze machten. Überall entstanden Wehrsportgruppen, die in den Volkssportschulen einen förderlichen Ausbildungsplatz fanden.
Der allgemeine Sport wurde stark gefördert, ohne militärische Absichten erkennen zu lassen. Das deutsche Volk solle sportlicher werden, mit zunächst sehr vagen Vorstellungen, nämlich der kollektiven Volksgesundheit. Doch die Partei- und Gruppenführer sahen darin andere Potenziale.
Manche Menschen fühlten sich durch die Angebote angesprochen. Auch Rudolf, der bisher keinerlei sportliche Ambitionen hatte. Er begann, nicht in einem herkömmlichen Sportverein, sondern in einer Wehrsportgruppe mit ' Körperertüchtigung '. Die Tätigkeit im Bergbaumuseum verschaffte ihm zwar finanzielle, aber kaum körperliche Befriedigung. Die hoffte er nun in dieser Sportgruppe zu finden.
Auch seine Freundin fand sich in der BDM. - genannten Vereinigung gut aufgehoben. Hier konnte man neben spezifisch weiblichen Sportübungen Hilfeleistungen am Menschen üben, was dann später zum ROTEN KREUZ überleitete. Körperertüchtigungen werden gezielt nicht nur zur allgemeinen Volksgesundheit eingeübt, sondern unterschwellig vor dem Hintergrund von Revanche-Gelüsten. R.H. wie Lotte finden Gefallen an derartigen Betätigungen. Jede freie Minute stählen sie ihre Körper in Gruppen mit Gleichgesinnten.
Es bilden sich Fahrradgruppen, und man fährt lange Strecken durch die Natur (ein Fahrrad wurde allen Teilnehmern kostenlos zur Verfügung gestellt). R.H. unternimmt Waldläufe, lernt Ausdauerschwimmen auf 50-Meterbahnen neu gebauter Schwimmbäder. Absichten, die sich dahinter verbargen, erkannte niemand. Die Gesundheit solle gefördert werden, wie die Sportleiter sagten.
Auch Lotte, die er oft in Chemnitz besuchte, ahnte nicht, dass es sich hierbei um eine vormilitärische Ausbildung handeln könne. Beide fühlten nach den normalen Anfangs-Muskelkatern eine unbekannte körperliche Frische, das Leben, das Miteinander und die Arbeit tat ihnen unheimlich gut. Sportliche Bewegung kann nie schaden, wurde allgemein gesagt.
R.H. grübelt. Die politischen Wirren machen ihm zu schaffen. Fememorde, nur weil man eine andere weltanschauliche Meinung hat?
Nicht zu leugnen, die Reparationsforderungen von Engländern, Franzosen, Russen und Amerikanern belasten Deutschland schwer. Doch es ist bei allen Kriegen der Welt üblich, dass ein Verlierer zahlen muss. Aber fair sollte es schon sein, Knebelungen schüren Hass und Aggressionen.
In dieser Situation befindet sich das Land der Richter und Henker, wie man Deutschland oft nannte. Hassprediger heizen die Lage weiter an. Wer solchen Leuten wie STREICHER, HIMMLER und vor allem GOEBBELS auf den Leim ging, kam von derartigen Ideologien kaum wieder los. Auch der gescheiterte Hitlerputsch von 1923 führte dazu, dass die NSDAP in sich nur noch gefestigter wurde.Nachdem ADOLF HITLER nach kurzer Festungshaft in München frei war, warb er mehr als zuvor mit seiner heiseren, durchdringenden, unangenehmen Stimme für die NSDAP. Bereits 1921 wurde er der Vorsitzende dieser Partei. War das eine demokratische Wahl oder eine manipulierte?
Während der Inhaftierung Hitlers war die Organisation verboten, Hitlers vorzeitige Entlassung führte jedoch sofort zu einer Neugründung. Wenn es Menschen auf der Welt wirtschaftlich an die Substanz geht, greift jeder nach jedem sich bietenden Strohhalm.
Über geheime Absichten debattierte die sozialistische Parteiführung nur in abgeschirmten Versammlungen. Oft im Münchner Hofbräukeller, der zu Hitlers bevorzugter Stätte wurde. Die Öffentlichkeit ist durch tendenziell beeinflusste Zeitungen unzureichend, meist irreführend informiert worden. Das war klare Absicht.
Der Strohhalm hier war die NATIONAL-SOZIALISTISCHE-DEUTSCHE-ARBEITER-PARTEI. Die verstand es durch ihre Auftritte, die Massen für sich zu interessieren. Doch das Volk wurde bewusst verdummt: Im Hintergrund standen die Revision und der Bruch des Versailler Vertrages. Eine der Wahnvorstellungen der National-Sozialisten war, die Arier?? des deutschsprachigen Raumes zu Herrenmenschen?? zu erheben und Unwertes?? Leben zu vernichten.
Wer von den verarmten Menschen hatte davon in irgendeiner Weise Ahnung oder Interesse, darüber nachzudenken. Die Hungernden sind daran interessiert, wie sie den Tag über ihren Magenfüllen können. Was sind Arier, Herrenmenschen, und was versteht man unter unwertem Leben? Zuerst ging es um das persönliche Wohlergehen.
Als Rudolf und Lotte in den Wehrsportverband bzw. den B.D.M. eintraten, verschwendeten sie auch keinen Gedanken an Machtmenschen oder Arier. Sind Arier Existenzen von anderen Sternen? Die beiden strebten an, ausschließlich für sich und die allgemeine Volksgesundheit etwas Gutes zu tun. Das war ja durchaus nicht verkehrt, bis sie allerdings unmerklich mit den politischen Absichten der Partei konfrontiert wurden, die hinter diesen Organisationen stand. Anfängliches Zögern verhinderte nicht, dass der strebsame junge Mann und seine Freundin Gefallen an vorerst geheimen, dann immer offener ausgesprochenen Vorhaben finden. Wenn die Lebensumstände sich durch innovative Ideen bessern würden, könnte das nur von Vorteil für das deutsche Volk sein, meinten beide.
Was der umtriebige Hitler mit den ergebenen Gefolgsleuten insgeheim beabsichtigt, bleibt für R.H. noch für lange Zeit im Dunkeln verborgen. Aber irgendwann steckte er drin im Schlamassel. Das Schicksal nahm seinen Lauf.
Rübenau an der deutsch-tschechischen Grenze wurde in das politische Geschehen kaum hineingezogen. Man lebte hier weiterhin recht weltabgeschieden, Telefon und Radio besaßen nur wenige, Neuigkeiten sind eher von Mund zu Mund verbreitet worden.
Und zwar im wahrsten Sinn des Wortes: Anton meinte ebenfalls, die Frau seines Lebens gefunden zu haben.
Durch die grenzgängerischen Schmuggeltouren der vergangenen Jahre hatte er Bekanntschaften im tschechischen Kalek geknüpft. Jetzt erinnerte er sich an Jana, die ihm bereits als Schulbub aufgrund ihres spitzbübischen Lachens und ihrem Witz aufgefallen war. Sie wird wie Anton etwa 20 Lenze zählen. Er möchte sie mal wiedersehen, doch auf normalem Weg, nicht über die verschlungenen Pfade, auf denen er sich oft dreckige Schuhe und nasse Kleidung geholt hatte.
Es ist kein weiter Weg, nur knappe 3 Kilometer. An einem der wenigen arbeitsfreien Wochenenden, einem Sonntag, nahm er all seinen jugendlichen Mut zusammen. Frühmorgens, bei herrlichem Sommerwetter, marschierte er in erzgebirglerischer Trachtenkleidung los.
An der Zollstation, dem Grenzübergang, wurde er begrüßt: » Morschn, Andon, wie gehdsn so?«
» Gudde «
»Hasch jo kä Arbetshusn o, wohi wisch de?«
» Een abmohrgsen«
»Oh ha, do loass di net drwischn«
»Na, na, de bis bälde.«
» Kimm gudde zrügge«
Auch auf der tschechischen Seite hatte Anton keine Schwierigkeiten, über die Grenze zu kommen. Man kannte sich, es war ein freundschaftliches Miteinander.
Er schritt forsch aus, und nach einer halben Stunde war er in Kalek. Die beste Gelegenheit, hier jemanden zu treffen, war Sonntag morgens in der Kirche oder im Wirtshaus beim Umtrunk. Er hatte Jana viele Jahre nicht gesehen und wusste nicht, wie es ihr ergangen war und ob sie nicht etwa bereits vergeben war. Doch einer Eingebung vermochte er schwer zu widerstehen. Er würde sonst mit ewigen Selbstvorwürfen zu leben haben.
Anton kam just zum Gottesdienstbeginn in Kalek an und setzte sich auf eine der hinteren Kirchenbänke. Hier hatte er alles treffend im Blick, sah die Gläubigen allerdings nur mit ihrer Rückseite. Aber er hoffte, wenn Jana in der Kirche wäre–und der Besuch ist ein Gebot für jeden Ortsansässigen–würde er sie wiederzuerkennen. Ihr spitzbübisches Lächeln könnte sie verraten. Auch in dem Gotteshaus.
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