Nach einigen Monaten hatte der Dörfler sich eingelebt. Respekt verschaffte er sich durch Lerneifer und Hilfsbereitschaft gegenüber seinen Mitschülern. Prügeleien, wie sie in Rübenau gelegentlich vorkamen, erlebte er an dieser Penne keine. Hier gewinnt man mit erstklassigen Kenntnissen Vorteile, nicht durch Rabaukentum.
Lehrer Böhm findet Gefallen an dem Zugezogenen und gestattet ihm Zugang zu der vorzüglich ausgestatteten Bibliothek der Bildungseinrichtung, was eher nicht üblich ist. Rudolf nutzt das Privileg. Die Bücherei besitzt einen umfangreichen Fundus an Geschichtsbüchern, genau das, was den wissensdurstigen Neuen interessiert. Er wird Dauergast im Lesesaal. Höhere Mathematik mit Algorithmenrechnung liegt R.H. nicht so sehr. Davon lernt er just so viel, dass er dem Unterricht zu folgen vermag und nicht mit einer EINS oder ZWEI im Zeugnis nach Hause geht.
Hey, das sind doch Superzensuren. Nein, waren es nicht, denn in den Zwanzigern ist die beste Zensur die SECHS, die geringwertigste somit die EINS. Ihm genügten die Grundrechenarten. Das Fach Geschichte mit seinen zahlreichen Verzweigungen ist für Rudolf das wahre Leben. Mit den Bestnoten SECHS und FÜNF kann er hier glänzen.
Der Klassenunterricht in Geschichtsschreibung forderte ihn kaum. Er holt sich das Wissen gierig aus dem Lesesaal der Bibliothek. Aufbauend auf der Literatur des Mittelalters kommt er enger heran an die Zeit um 1900. R.H. beschäftigt sich intensiv mit den Jahren vor dem 1. Weltkrieg. Das ist dann fast selbst erlebte Geschichte, wobei Chronik auch immer politisch und finanzpolitisch zu sehen ist.
Aus dem Altertum ist bekannt, dass Fehden stets Eroberungskriege waren, die dem Gewinner Zuwachs an Macht und Reichtum brachten. Aber irgendwann – das las Rudolf ebenfalls aus dem Schrifttum heraus – zerfielen solche Imperien wieder. Sei es aus eingetretener Dekadenz oder wegen Erstarkung bisher unterdrückter Gegner. Zerfall – manchmal erst nach Jahrhunderten – erlebten die Phönizier, Karthager, Ägypter, Griechen und Römer. Dschingis Khan mit seinem Mongolenreich ging unter. Stets verschwanden diese Reiche, weil andere sich weiterentwickelt hatten. Und das Eigenartige ist, wie R.H. erkannte, dass die Zeitspannen der Hochblüte solcher Staatsgebilde immer kürzer wurden.
Der Schüler wird fast zum jugendlichen Wissenschaftler. Intensiv beschäftigt er sich mit den geschichtlichen Abläufen und versucht, daraus naturgegebene Regeln herzuleiten. Nach 2 Jahren Studium der Materie ist der Pennäler in der Neuzeit angekommen. Er setzt sich jetzt mit dem Deutsch-französischen Krieg 1870/71 und der Zeit darnach auseinander. Der Auslöser für diese Auseinandersetzung war das Ansinnen von Napoleon III., König Wilhelm von Preußen zu drängen, ein Verbot auszusprechen, damit nicht Prinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen der Monarch von Spanien würde.
In den Augen des Volkes werden aus nichtigen Anlässen Konflikte angezettelt. Der ungebildete Untertan gibt mit Hurra für seinen Landesherrn eigenes Leben dahin. Mit dem Gesang: „ Lieb Vaterland, magst ruhig sein, feststeht und treu die Wacht am Rhein“ zogen deutsche Truppen gegen die Franzosen in den Kampf.
Rudolf Haub aber ist fasziniert von diesen Vorgängen. Er identifizierte sich mit den Beschreibungen über die Feindseligkeiten. Vollzog gedanklich nach, wie sich die Regimenter des Norddeutschen Bundes und der süddeutschen Kleinstaaten gemeinsam gegen die französischen Nachbarn wandten. Auch hier waren wirtschaftliche Interessen der Auslöser zu den Konflikten, doch der gewöhnliche Volksgenosse kannte solche Überlegungen nicht. Er stürzte sich für seinen König in den Tod. Die Regimentsfahne war ihm heilig.
Jetzt konnte der Rübenauer auch ein gutes Stück nachzuvollziehen, wie es dem Vater im 1. Weltkrieg erging. Der nach den Kämpfen hochgradig kriegsversehrt entlassen worden ist und nur mit Gotteslohn sein Zuhause erreichte. Das Familienoberhaupt war so traumatisiert, dass er über eigene Kriegserlebnisse kaum gesprochen hat. Rudolf aber war wissbegierig und hatte endlich Gelegenheit, Hintergründe und Zusammenhänge zu erkennen.
Mit dem Sieg bei Sedan war der Feldzug keineswegs beendet. Kaiser Napoleon wurde zwar gefangen gesetzt und die Republik in Paris ausgerufen. Über die Schlacht bei Sedan 70/71 las Rudolf, wie Napoleon III. nach dem verlorenen Gefecht in einem Brief an den preußischen König schrieb: »Da es mir nicht vergönnt war, inmitten meiner Truppen zu sterben, lege ich meinen Degen in die Hände Eurer Majestät«.
Was für ein Pathos, und was für ein Unsinn dieser Konflikt doch war. Der Kampf um Paris begann erneut und wurde mit der Übergabe der Stadt am 28. Januar 1871 beendet. Die Franzosen wollten die Kapitulationsbedingungen der Deutschen jedoch nicht akzeptieren, was wiederum zum 1. Weltkrieg und der nach dessen Ende diktierten Reparationsbedingen durch England und Frankreich führte. Das war dann der Auslöser für den späteren Aufstieg des Adolf Hitler. Und ebenso die Verblendung Rudolfs. Doch dem soll jetzt nicht vorgegriffen werden.
70/71 sind 26 Festungen in Frankreich erobert und 370.000 Gefangene, darunter Turkos und Zuaven, gemacht worden. Doch was sind Turkos, was sind Zuaven? In schlauen Büchern las Rudolf: Turko ist der Spitzname für algerische und tunesische Kämpfer in der franzmännischen Armee, und ein Zuave war ein Soldat des päpstlichen Kirchenstaates, der eine exotisch anmutende Uniform mit Schärpe trug. Die Zuaven kämpften zeitweise unter französischem Kommando und sind als gefangene Papistische in Berlin zur Schau gestellt worden. Fremdartige Menschen als Schauobjekte und der Vatikan als Kriegsteilnehmer!
Nach Kriegsende wurde das Deutsche Reich ausgerufen, das zunächst aus 26 Kleinstaaten bestand. König Wilhelm nahm die ihm angebotene Kaiserkrone an, erster Reichskanzler war Fürst Bismark. R.H. geht in der Historie auf, verschlang Bücher über Bücher und bastelte sich sein Bild von den Friedensjahren ab 1871 zusammen.
Das Deutschland als Kolonialmacht bereicherte sein Wissen, und als Kind erlitt er, wie das Kaiserreich unter Wilhelm II. auf den nächsten Feldzug, den 1. Weltkrieg zusteuerte. Die Auswirkungen erlebte er dann selber mit.
Ob Kaiser Wilhelm durch den Ausbau der Flotte und des Heeres die Absicht verfolgte, andere Länder zu bekriegen, ist nicht glaubwürdig belegt. Vorrangig beabsichtigte er wohl, Deutschland abzusichern und unangreifbar werden zu lassen. Die Insel Helgoland tauschte der Kaiser mit England gegen Teile von Kenia und Uganda in Afrika ein. Er verpflichtete sich dazu, nicht weiterhin Einfluss auf Sansibar zu nehmen. Das Kaiserreich baute die Felseninsel in der Deutschen Bucht dann zu einem Flottenstützpunkt neben Wilhelmshaven aus. Eine englische Bastion in Reichweite der Hafenstädte Hamburg und Bremen war ihm ein Gräuel. Von hier hätte Albion den Seeverkehr Deutschlands nachhaltig blockieren können.
So jedenfalls hat Rudolf es in der Schulbibliothek studiert. Germania ist im 20. Jahrhundert zu einer Großmacht aufgestiegen, das unter den anderen einflussreichen Staaten England, Russland und dem wieder erstarkten Frankreich zunehmend Neider fand. Aus der Kleinstaaterei ist ein wichtiger Nationalstaat entstanden.
Mit Missgunst und Angst ist das politische Attentat von Sarajewo zu erklären, das dann zum Ausbruch des 1. Weltkrieges führte. Die Hintergründe dazu verinnerlichte sich R.H. während der Schulzeit, die er 1922 im Alter von 18 Jahren mit akzeptablen Prüfungszeugnissen beendete.
Der Heranwachsende ist aber noch nicht volljährig. Den Status erreichte man erst mit einundzwanzig Lenzen. Daher musste sein Vormund, die Tante, bei der er die Schuljahre über wohnte, zustimmen zu dem, was er nach der Schulzeit lernen wolle. Denn die Eltern lebten nicht mehr. Ein Studium kam für ihn nicht infrage. Dazu fehlten ihm die aristokratischen Voraussetzungen und demzufolge die finanziellen Mittel. Ihm blieb nur die Ausbildung in einem Handwerk oder im kaufmännischen Bereich. Die Entscheidung fiel für eine Berufslaufbahn mit weißem Kragen.
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