In der jetzt zwei-klassigen Volksschule Rübenau erhielten die Kinder weiterhin nur ein Grundwissen vermittelt, das eben mal ausreichte, die in der Gemeinde ansässigen Handwerke zu erlernen. Das reichteRudolf aber nicht. Deshalb sehnte er sich nach dem Krieg als 13-Jähriger in die für ihn unbekannte Welt, nach Marienberg. Als Klassenbester hatte er eine Empfehlung zur Mittelschule in der Kreisstadt erhalten.
Die gleichaltrigen R.H. und Anton Grynszpan schlagen ab dieser Zeit recht unterschiedliche Lebenswege ein. Rudolf auf der Realschule in Marienberg, Anton mit mäßiger Volksschulbildung in einem Hammerwerk bei Rübenau. Jeder hat seine eigenen Vorstellungen von einem Leben nach dem Krieg.
Jüngling verließ R.H. seine Familie und den Heimatort, in dem er die Kindheit verbrachte. Unterkunft in Marienberg findet er bei einer Tante, der Schwester der verstorbenen Mutter. Der Hinterwäldler Rudolf kam in eine völlig andersartige Umgebung, in der er sich zunächst überhaupt nicht zurechtfand. Es ist nicht ohne Schwierigkeiten, von einer zwei-klassigen Dorfschule auf die Mittelschule einer kleinen Stadt zu wechseln; aber er hatte ein Ziel vor Augen. Er ist ehrgeizig, wollte mehr aus seinem weiteren Leben machen. Neben Mathematik und Sport interessierte ihn speziell die deutsche Geschichte. Anders als in der Zwergschule Rübenau würde ihm hier detaillierteres Wissen vermittelt werden.
Doch es barg eine Gefahr: Es gab in Marienberg Lehrkräfte, welche den soeben überwundenen Weltkrieg in ihrem Unterricht ideologisch behandelten. Davon aber hatte Rudolf keine Ahnung.
Realschuloberlehrer Böhm war so einer, und genau der wurde zum Klassenlehrer des unerfahrenen neuen Schülers. Der Zufall wollte es, dass der geschichtsdurstige Rudolf ausgerechnet auf einen Pädagogen traf, der dieses Wissensgebiet als seinen vorrangigen Lehrauftrag sah. Dadurch entstand eine schicksalsträchtige Symbiose. Die Weichen wurden neu gestellt.
Als hinterwäldlerischer Neuling kam R.H. in eine 4-stufige Realschulklasse. Nach sechs Jahren in der Volksschule hat er sich mächtig anzustrengen, um das Klassenziel mit der 10. Klasse zu erreichen, zumal der Unterricht in Rübenau wegen Mithilfe bei der Heimarbeit und in den grimmigen Wintern oft unterbrochen war. Rudolf hatte es schwer, auf das Niveau der neuen Schule zu gelangen.
Wie es halt ist, wenn man sich in fremder Umgebung nicht auskennt, tritt man am Anfang oft in Fettnäpfchen. Manchmal werden die auch extra aufgestellt, um NEUE aufs Glatteis zu führen. Das ist zwar fies, aber alle Beteiligten, außer dem Opfer selbst, ergötzen sich daran.
Anders, als er es bisher kannte, fand der Unterricht hier getrennt nach Mädchen und Jungen statt, worüber Rudolf nicht im Bilde war. Er wird als Neuling einer 6. Klasse zugeteilt, doch man schickte ihn bewusst irreführend in eine Mädchenklasse. Da sitzt er, als einziger Junge, und hat sich allerhand Spott und Neckereien der Mädchen gefallen zu lassen. Bis die Klassenlehrerin ihn auf diesen Schabernack hinwies und er unter schadenfrohem Gelächter die Weiberklasse fluchtartig verließ.
Ein wüstes Gejohle empfing ihn gleichermaßen, als er dann verspätet in seiner ihm zugeteilten Klasse aufkreuzte, denn hier wusste man auch von dem Streich. Wenn Rudolf nicht ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein entwickelt hätte, wäre er möglicherweise umgehend wieder zurück nach Rübenau geflüchtet. Er aber sann auf Rache. Bei passender Gelegenheit würde ihm sicher eine geeignete Retourkutsche einfallen.
Oberlehrer Böhm ist Garant für Zucht und Ordnung in der Klasse. Als gedienter Soldat brachte er es bis zum Hauptmann. Er marschierte mit festen Schritten während des Unterrichts im Klassenraum auf und ab, hin und her, klopfte mit einem Rohrstock auf das Pult oder die Tische der Schüler und gelegentlich selbst auf die Hand- und Sitzflächen seiner Untergebenen. Er war typisch Respektsperson, duldete keine Flachsereien und Widerreden; Schummeleien schon mal gar nicht. Erwischte er jemanden mit einem Spickzettel, fand der sich für Stunden vor der Klassentür wieder. Er hatte Spott und Gemeinheiten anderer Pennälern zu ertragen.
Im Unterricht half solch diszipliniertes Regiment meistens, außerhalb der Schule aber ging man dem Herrn Böhm gerne aus dem Weg. Da kannte er kaum Freundschaften. Doch im Fach deutsche Geschichte war der Pauker ein ausgewiesener Experte. Und da R.H. für eben dieses Lehrfach bedeutendes Interesse zeigte, wurde er bald der Lieblingsschüler des Klassenlehrers. Beide fühlten sich bestätigt und anerkannt: Der Lehrer, weil er einen wissbegierigen Schüler für sein Lieblingsfach gefunden hatte. Der unbedarfte Pennäler wegen der Möglichkeiten, bei einem Fachlehrer sein bisheriges Wissen auf eine gehobene Grundlage stellen zu können.
Für die meisten Schulkinder ist Geschichte ein rotes Tuch. Wer interessiert sich schon für Alarich und die Horden der Mongolen. Niemand freudig, nur unter dem schulischen Zwang. Die Kreuzzüge der Ordensritter gegen die Sarazenen und die Jahrhunderte lange Besetzung der iberischen Halbinsel durch mohammedanische Araber fand kaum Interesse bei den Schülern. Pauken einschläfernder Jahreszahlen wäre für manchen Pennäler ein Grund, den Unterricht zu schwänzen. Rudolf aber konnte von diesen historischen Zeiten nicht genug erfahren.
Doch auch die nicht lange zurückliegende Vergangenheit, die aktuelle Weltlage und die sich daraus entwickelnde Zukunft ist Gegenstand des Unterrichts und von brennendem Interesses für R.H.. Böhm findet sich in seiner Unterrichtsgestaltung bestätigt, und der Neue hat einen Mentor, der ihm manches bisher Unbekannte nahebringt. Böhm ereifert sich darüber, wie schändlich die Siegermächte von 14/18 mit Deutschland umgegangen wären.
Die Mittel- bzw. Realschule Marienbergs ist ein in die Jahre gekommenes Gebäude. Zahlreiche Schülergenerationen haben die hölzernen Treppenstufen ausgetreten, die Toilettenwände mit schauderhaften Sprüchen und Zeichnungen verziert. Aus Geldmangel in der Nachkriegszeit hat die Stadtverwaltung notwendige Renovierungen nicht durchführen können. Daran störte sich R.H. weniger, er war es aus Rübenau weitaus primitiver gewohnt. Da gab es noch Plumpsklos mit Herzen in der Tür, nicht getrennt für Mädchen oder Jungen. Nur für den Lehrer – und es gab nur Einen hier– war ein eigenes Örtchen vorhanden, das sogar abschließbar war. AlsRudolf die Toilettenräume der Marienberger Schule benutzt, erinnert er sich an den Empfang und seine Rachegelüste. Eine derartige Schmach mag er nicht auf sich sitzen lassen. Hier zeigte sich zum ersten Mal eine sadistische Ader. Er hat eine perfide Idee.
Wofür leben Frösche? Doch nicht nur, um Fliegen zu fangen oder selbst als Futter zu dienen: Atemberaubend Streiche lassen sich damit aushecken, nur darf man dabei nicht erwischt werden. Als ein vom Dorf » Zugreister « kennt der Neue sich in der Natur aus und weiß deshalb, wo und wie er solche Amphibien einfangen kann. Er sammelt einige davon, verbirgt sie in einem unauffälligen Karton und bringt sie zur Schule mit. Aber nicht für den Naturkundeunterricht. Das Geschrei und Gekreische der Mitschüler auf den Toiletten ist durchdringend. Niemand hat herausgefunden, wer die Frösche in den Aborten ausgesetzt und verteilt hat.
Für Rudolf ist unerlässlich, sich im Rechnen – Mathe war noch kein gängiger Ausdruck – zu verbessern. Doch seine wahre Liebe ist Deutsch und Geschichte. Lehrfächer, die für viele andere abschreckend sind. In den Grundschulen lernte man nur das Wesentlichste. Die Namen Karl d. Große, Friedr. d. Große oder der nach Holland geflüchtete Kaiser Wilhelm II. sind ihm bewusst. Auch dass Deutschland eine Kolonialmacht neben England und Frankreich war und sich zur Industrienation entwickelt hat, lernte er. Hintergründe dazu und tieferes Wissen besitzt er nicht. Doch ausgerechnet das interessiert den jungen Schüler.
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