Er schaffte guten Lohn nach Hause. Manchmal erfuhr man von sich verschlechternden Auftragslagen in anderen Wirtschaftszweigen. Wird die erfreuliche Konjunktur der vergangenen vier Jahre bald ihr Ende finden? In der zu einem florierenden Betrieb entwickelten Schmiede merkte man davon nichts.
Das Wochenende stand vor der Tür, und die Familie Grynszpan, zumindest ein Teil von ihr, war zum Besuch in Kalek bereit. Anton ist huppetil , kräftig aufgeregt, wenn er daran denkt, mit den Eltern den Weg nach Kalek langzulaufen, um dann an der Tür von Jana zu klingeln! War er ein Mann auf Freiersfüßen? So weit war es noch keineswegs, aber die Liebe hatte ihn ordentlich gepackt.
Er schaute zurück in seine Kinderzeit, sah sich, wie er als Konfirmand, mit Hut, vor Vater, Mutter und Geschwistern her, zur Kirche zottelte. Das ist zwar bereits eine ganze Weile her, doch das Gefühl überkam ihn erneut, verstärkte sich zudem, als dann am Sonntagmorgen wahrhaftig der Ausflug anging. An der Zollstation haben wieder bekannte Leute Dienst, und das war ein gefundenes Fressen für die, als Anton mit seinen Eltern über die Grenze wollte:
»Do schau her, do kimmt dr Homberich mit sei Leit. Morschn, gehdsn?«
»Jo, gudde gehdsn«
»giehts na Kalek, in dr Kerch?«
»Jo, gieh mr«
»In dr katholisch Kerch? Oha!«
»Woans oha?«
Das hätten sie hinter sich, 3 Kilometer im besten Sonntagsstaat würden sicher zu schaffen sein. Trefflich gelaunt und fröhlich, die Huppetitl, die Aufregung, hat Anton abgelegt. Auf diese Weise kamen die Rübenauer rechtzeitig zum Kirchgang in Kalek an. Drei Leute von driiben - ist die Kirche da abgebrannt?, frotzelte man.
Die Kaleker sind alle recht freundlich, und der Pastr begrüßte sie mit Handschlag an der Kirchentür. Jana war erwartungsgemäß nicht da, doch ihr Vtr schon. Auch er hieß die Ankömmlinge herzlich willkommen und setzte sich mit ihnen auf eine der hinteren Kirchenbänke. Antons Eltern hatten ebenfalls keinerlei Hemmungen, eine Kirche der anderen Konfession zu besuchen. Unüberwindliche Unterschiede in der Liturgie zwischen evangelisch und katholisch bestehen doch nicht, sind den Grynszpans jedenfalls nicht bekannt. Wenn die Ausstattungen der kath. Gotteshäuser pompöser sind, mag das seine Berechtigung haben. Martin Luther hat mit der Kirchenreform jedoch erreicht, dass der protestantische Kirchgänger dem Gottesdienst verständnisvoller zu folgen vermag. Insbesondere dadurch, dass die Predigt in deutscher Sprache, nicht mehr in Latein, gehalten wird.
Es war verabredet, nach der Andacht heute nicht das Wirtshaus aufzusuchen, denn Jana wartet zu Hause. Sie ist naturgemäß ebenso aufgeregt wie der Besuch. Die Eltern ihres Anton kennenzulernen, zerrt an den Nerven. Aber beim Vorbereiten des Mittagessens lenkte sie sich ab, und als es bald darauf an der Türe klingelt, ist sie ganz Hausfrau.
Als üblichen Begrüßungsfloskeln wohlmeinend ausgetauscht waren, bat der Votr in die Wohnstube. Jana trägt noch ihren Gehgips, die Halskrause braucht sie nicht mehr anzulegen. Anton erhält einen schüchternen Begrüßungskuss.
Nach einem obligatorischen Willkommenstrunk legte sich die anfängliche Befangenheit, wie es bei derartigen Gegebenheiten oft ist. Man kam zu entspannten Gesprächen, bis Jana erschreckt aufsprang, weil sie sich an ihre Küchenarbeit erinnerte. Judith, Antons Mutter, folgt ihr in die Küche, um Jana nicht alleine vor der Speisenzubereitung stehen zu lassen.
So bilden sich zwei Gruppen, männliche und weibliche. Die beiden Frauen haben ihr Gesprächsthema in der Kochstube, über Pott un Pann und Wisch und Wasch, die drei Männer in der guten Stube bei Beems Bier un een hochprozentgs Wassr im Stampf . (Schnapsglas) Die Älteren haben gleich ihr Thema, weil sie Bergleute waren. Da gab es allerhand zu erzählen.
Jeder hatte unter Tage im Laufe der Jahre gefährliche Situationen erlebt, aber ebenso Bergmannsfeste in blumiger Natur. Solche Feste wurden hüben wie drüben nach überlieferter Tradition gefeiert. Dann hatte der Bergmann Gelegenheit, dafür zu danken, dass er immer wieder heil aus dem Berg ausgefahren ist. Die Dankgottesdienste auf dem Dorfplatz sind nicht nur für die Hauer ein feierliches Ereignis im Jahresablauf, sondern die Gesamtheit der Dorfgemeinschaft freute und beteiligte sich daran. Von schweren Verletzungen sind beide verschont geblieben, nur Bruno hatte wegen seiner Staublunge frühzeitig nicht mehr unter Tage schaffen können.
Kohle- und Silbererzabbau wurde in vielen Erzgebirgs-Revieren weitgehend aufgegeben, weil im gesamten Gebirge nicht mehr lohnend. Lediglich im Revier Schneeberg wurde bis 1956 Wolfram gefördert, in Marienberg und weiteren Städten wie Schwarzenberg, Schneeberg und Pöhla in geringem Umfang der Abbau von Uranerz, jedoch erst in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg.
Die beiden Ex-Bergleute erzählten auch Geschichten vom Rübezahl, dem Berggeist, der außer im Riesengebirge zuweilen auch im Erzgebirge aufgetaucht ist. Er ist fest im Gedankengut der Grubenarbeiter des Gebirges sowohl aufseiten der Deutschen wie der Tschechen verankert.
Vater Plicka fabuliert es so:
»Rübezahl entführte die Königstochter Emma, die er heiraten will, in sein unterirdisches Reich. Mit Rüben, die Emma in jede gewünschte Gestalt verwandeln kann, versucht er ihre Sehnsucht nach ihrem Zuhause zu stillen. Doch die Runkelrüben verwelken, weil keine Liebe damit verbunden ist. Schließlich verspricht ihm Emma ihre Hand, wenn er ihr die Zahl der Rüben auf dem Feld nennt. Gelingt ihm dies nicht, muss er sie freigeben. Sofort macht der Berggeist sich an die Arbeit. Um auch zweifelsfrei zu sein, dass die Anzahl stimmt, zählt er gleich ein weiteres Mal, kommt aber zu einem anderen Ergebnis. Er flucht und schreitet ein drittes Mal über die Felder.
Während dessen flieht die Gefangene auf einer zum Pferd verwandelten Zauberrübe zu ihrem Prinzen Ratibor und verspottet den Geist mit der Anrede als Rübezahl. Daher wird der sehr zornig, wenn er mit diesem Spottnamen bedacht wird und rächt sich mit gelegentlichen Verwüstungen auf den Feldern. Manchmal ist er aber auch eine hilfreiche Spukgestalt«.
Über solchen und ähnlichen Erzählungen vergeht die Zeit. Die Weibsen haben das Mittagessen fertiggestellt. Sie hatten ebenfalls allerhand zu plaudern, wie es sich ergibt, wenn man (Frau) sich kennenlernt und sympathisch ist. So war es hier. Judith und die 22 - jährige Jana verstanden sich auf Anhieb. Antons Mutter ist mit der Wahl ihres Sohnes mehr als einverstanden.
Die Beiden haben eine original böhmische Mittagstafel gezaubert: Lendenbraten mit Knödeln. Als Nachtisch gibt es Powidknödel, die mit Pflaumenmus gefüllt sind. Wer möchte, bekommt zur Verdauung noch einen oder zwei Becherovka , das ist ein Karlsbader Kräuterlikör mit bittersüßem Geschmack. Gerne auch einen Turek, Kaffee, zubereitet auf türkische Art, wie er hier zu jeder Tageszeit getrunken wird.
Vater und Jana Plicka durchleben die Zeit nach dem folgenschweren Feldzug finanziell nicht besonders angenehm. Trotzdem hatten Votr und Tochter alles unternommen, um ihre Gäste aus Deutschland zu verwöhnen. Tschechen sind für ihre Gastfreundschaft bekannt, und hier lag ja nun noch ein zutiefst bewegenderer Grund vor – die Besiegelung der Freundschaft zwischen Jana und Anton, im weitläufigen Sinn auch beider Familien.
Bei anregenden Gesprächen vergeht die Zeit stets wie im Fluge, es wird allmählich Abend. Da es im Jahreskalender bereits weit fortgeschritten ist, der Herbst sich mit Stürmen, Kälte und Regengüssen eingestellt hatte, dunkelte es schon früh. Die Runde hat bei informativen und bedrohlichen Gesprächsthemen völlig die Uhrzeit vergessen. Grynszpans hätten genau genommen lange wieder aufbrechen wollen. Es war ihnen peinlich. » itze giehts hamm«.
Читать дальше