Da wird Anton nicht Nein sagen. Er freut sich zutiefst auf das Wiedersehen, wenn die Umstände auch nicht erfreulich sind. Es hätte alles noch erheblich schlimmer kommen können, sagt Vater Plicka. Dass sie sich bei diesem Sturz nicht das Genick gebrochen hat, kann nur mit ihrem festen Glauben an Gott zusammenhängen. Ist die Meinung ihres Vaters.
Jana wartet freudestrahlend auf Anton, doch mit Tränen im Gesicht. Selbst Antons kann das Feuchte in seinen Augen nicht verbergen. Das passiert ihm, dem kräftigen Mann, höchst selten.
Jana trägt einen Gipsverband am Fuß, und um den Hals hat sie eine Nackenkrause gelegt. Ihr Votr stand dabei und freute sich mit den Beiden über ihr Wiedersehen. Da gab es eine Menge zu erzählen, wie das mit dem Treppensturz passieren konnte, welche Schwierigkeiten sie hatten, ins Krankenhaus nach Chomutov zu kommen. Und dann das Umgehen mit der Behinderung hier im Hause. Da geht alles nicht so wie gewohnt von der Hand, doch das wird wieder heilen. Und jetzt steht Janas Vater ihr bei, wie es umgekehrt auch gewesen wäre.
Anton erzählte von seiner Arbeit, von den Massen an Gewehren, die hergestellt werden, von Ängsten über die Verwendung. Und von der Familie soll er viele Grüße bestellen.
Man wunderte sich über Antons Nachnamen: Grynszpan. Das ist doch eine tschechische Benennung. Und er klingt jüdisch. Man könnte Namens - und Familienforschung darüber betreiben. Das aber ist bekannt: Antons Vorfahren sind im 16. Jahrhundert von Ferdinand II. aus Böhmen vertrieben worden, weil sie keine Katholiken waren und nicht konvertieren wollten. Das ist vielen so ergangen, damals. Doch wie kamen sie zu dem für Deutsche so fremd klingendem Namen?
Jetzt wurde etwas ganz Normales in Angriff genommen: Es ist ans Mittagessen zu denken. Vater, Jana und Anton machen sich an die Arbeit, jeder nach seinen Fähigkeiten.
Der eine schält Kartoffeln, der andere richtet den Braten zu, und Jana putzt im Sitzen das Gemüse. Gemeinsam werden sie ein Festessen zaubern. Bald ziehen herrliche Gerüche durchs Haus, und bei einem Glas Wein genießen sie dann das Mahl. Ein normaler Sonntag wurde zum Festtag. Drei Menschen laben sich und sind glücklich.
Bei schwerwiegenden Gesprächen über die ungewisse Zukunft läuft der Tag dahin. Anton kümmert sich fürsorglich um die verletzte Jana. Mit einem Spaziergang kann es heute leider nichts werden, doch gab es als Ausgleich dafür ein gutes Abendessen. Anton machte sich zu vorgerückter Stunde niedergedrückt und beglückt zugleich auf den Heimweg nach Rübenau.
Ein weiteres Treffen vereinbarten sie für das kommende Wochenende, und wenn es passte, wären auch Antons Eltern mit eingeladen. Das bekam er noch mit auf den Weg, und so etwas nennt man grenzüberschreitende Liebe. Als Anton mit der Einladung an Vater und Mutter zu Hause ankommt, sind Bruno und Judith erfreut und aufgeregt. Das erste Kind hat sich offenbar >grenzenlos< verliebt. Sie freuen sich mit ihm, ebenso die Geschwister, doch die können kleine Neckereien nicht sein lassen.
» Saa eemol, wie fühlst di wu a Homberich? « oder » Jo, so is ds Lahm in de Uhiesschr« (Ja, so ist das Leben in der Fremde).
Die nächste Arbeitswoche verlief schleppend, aber das kennt man. Stets, sobald man sich auf etwas freut, wird die Zeit zum Weltall. Sie dehnt sich ins Unendliche. Doch die Arbeit fordert Arnold. Und oft macht er sich Gedanken über die Unmengen von Gewehren, die das Werk verlassen.
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Ähnlich ergeht es Rudolf in Freiberg. Kaum konnte er es erwarten, wieder Chemnitz und seine Lotte besuchen zu dürfen, doch wenn hier drei- oder vier Wochen zwischen den Treffen liegen, kann man sich immerhin schreiben. Es flatterte so mancher Brief von Chamz in Richtung Freiberg und umgekehrt. Nicht immer sind sie einer Meinung in ihren Ansichten. Nur, von Waffenherstellung hatte R.H. keine Ahnung.
Das mag auch mit den unterschiedlichen Geburtsorten zusammenhängen. Lotte ist aus einer Hafenstadt, die im Mittelalter der Hanse angehörte, nach Chemnitz gekommen. Die Wirtschaftslage im Norden ist stets etwas weniger angespannt, selbst in den vergangenen, wirtschaftlich schwierigen Jahren. R.H. stammt aus dem verarmten Erzgebirge. Da hat man durchaus andere politische Vorstellungen. Radikalere oft, wenn man mit geringerem Wohlstand aufgewachsen ist. Ein höherer Lebensstandard vermindert Aggressivitäten, überall auf der Welt. Rudolf war stets ein liebenswürdiger und besonnener junger Mann, der Umgang in der Wehrsportgruppe hatte ihn aber doch unmerklich verändert. Besonders, was seine Wahrnehmungen in Bezug auf die Parteienlandschaften betrifft.
Nach den sportlichen Übungen trifft man sich regelmäßig zum Gedankenaustausch, wie die politischen Vorträge bei einem Bierchen am runden Tisch genannt werden. Die immer mehr parteipolitisch gefärbten Äußerungen, welche zur Sprache kommen, fielen bei R.H. zunehmend auf fruchtbaren Boden.
Redegewandte Leute sind es, die sich darauf verstehen, das Gedankengut der NSDAP und der SA den mit offenen Ohren dasitzenden Sportlern einzuimpfen. Mancher übernahm kurzerhand die vorgetragenen Thesen. Es wurde freilich alles so überzeugend dargestellt, dass an den Osterhasen glaubende am Wahrheitsgehalt nicht zweifeln mochten.
Rudolf hingegen machte sich Gedanken, vielleicht deshalb extra intensiv, weil er sich eingehend mit Geschichte auseinandergesetzt hatte. In all den Jahren auf der Realschule in Marienberg auch mit spezieller Wirtschaftsgeschichte. Sein Geschichtsoberlehrer Böhm hatte ihm umfangreiches Wissen beigebracht, das ihn jetzt zum Nachdenken anregte. Aber war das womöglich etwas ’braun’ eingefärbt? Auf jeden Fall hatte es Spuren in R.H. hinterlassen.
Das Kalenderjahr 1928 neigte sich dem Ende zu. Es naht die Advents- und Weihnachtszeit. Im Erzgebirge begeht die Bevölkerung sie besonders eindrucksvoll. Jede Familie schmückt dann Fenster und Wohnstuben mit Tannengrün und Kerzenlicht. Traditionelle, handgeschnitzte, kunstvoll bemalte Schwibbogen, Nussknacker, Engelpyramiden, Raachermanndl und Engelfiguren werden wie jedes Jahr wieder aus dem Sommerschlaf erweckt und versetzen die Menschen in eine feierliche Vorweihnachtsstimmung. das leibliche Wohl wird auch nicht außer acht gelassen. Erzgebirgischer Mandel- und Rosinenstollen wird gebacken. Erregende Düfte ziehen durch die Räume. Die Rezepte dazu werden von Mutter zu Tochter weitergegeben und sind oft ein gut gehütetes Familiengeheimnis.
R.H. möchte seine Lotte gerne mit diesem alten, gewachsenen Brauchtum bekannt machen. Wenn er wieder nach Chams fährt, wird er ihr vorschlagen, in den Tagen vor und zwischen den Feiertagen Rübenau zu besuchen. Im Elternhaus, in dem noch zwei der Schwestern wohnen, würden sie mit Sicherheit unterkommen können. Nur die Anreise wäre etwas beschwerlich, denn von Chemnitz wird man mit der Hauptbahn nach Flöha reisen, da umsteigen und mit einer Nebenbahn bis Marienberg zuckeln. Ab dort entweder zu Fuß oder mit einem Pferdeschlitten auf gefrorenen Wegen, die gewöhnlich in tief verschneiter Landschaft verlaufen, Rübenau erreichen. Sie würden ein herrliches Wintererlebnis genießen. Und er käme nach langer Zeit auch mal wieder nach daheim.
Lotte fällt ihm um den Hals, als er sie mit diesem Vorschlag überrascht.
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Anton hat eine anstrengende Arbeitswoche hinter sich gebracht. Trotz Neueinstellungen im Betrieb hatten die Mitarbeiter zusätzliche Überstunden zu leisten. Es wunderten ihn weiterhin die hohen Auftragseingänge. Wozu will man die Mengen an Gewehren und Pistolen bloß alle nutzen? Dazu kam neuerdings eine Unmasse an Sohlennägeln, die unter Berg- und Soldatenstiefel geschlagen werden, um sie rutschfester zu machen, die Ledersohlen außerdem auch langlebiger zu erhalten. Ist es beabsichtigt, dass jeder Schritt unüberhörbar laut ist? Einerseits freut er sich über diese Arbeitsauslastung, andererseits bereitete es ihm Sorge um die friedliche Zukunft seiner Heimat. Was steckte dahinter?
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