Stadtmittelpunkt ist der großflächige Marktplatz, bestens geeignet für Großveranstaltungen jeder Art. Und genau hier hielt die in der Reichstagswahl abgestrafte nationalsozialistische Partei im Spätsommer 1928 eine Großkundgebung ab. Wie in anderen Großstädten Deutschlands auch, sollte das Volk auf eine neue Politik eingestimmt werden.
Bei Goebbels als Hauptredner stand die derzeitig erkennbar sich verschlechternde Wirtschaftslage im Mittelpunkt. Unter wüsten Beschimpfungen von Goebbels sei dessen Auffassung nach Die Linke der Verursacher, die KPD mit ihren sozialistischen, von Karl Marx geprägten Ideologien. Karl Marx sei ein kommunistischer Jude, doch über das Judentum als solchem wurden in dieser Hetzrede bewusst keinerlei Andeutungen gemacht. Nach den Erkenntnissen aus der Wahlschlappe sollen die Anfeindungen der Grund für die geringe Akzeptanz der Partei sein. Das dürfe sich nicht wiederholen. Der Gedanke an eine weitere Abfuhr hat keinen Platz in der Gedankenwelt der Nazis.
Göbbels sprach von der wirtschaftlichen Lage und der damit verbundenen Armut in Deutschland, ging aber nicht darauf ein, dass es die Folgen des verlorenen Konfliktes von 14/18 sind.
Der Redner stellte es geschickt so dar, als seien ausschließlich die Siegermächte Schuld an der deutschen Misere. Die derzeitige Weltwirtschaftskrise sei einzig und allein auf die Spekulationsfreudigkeit der wirtschaftlichen Oberschicht zurückzuführen. Unterschwellig meinte er die Juden damit.
Bewusst unterdrückte Goebbels, dass das Kaiserreich die Hauptschuld am Ausbruch der Feindseligkeiten trug. Der Mord am Erzherzog in Sarajewo wäre nur ein vorgeschobener Grund für den darauf ausbrechenden Weltkrieg. Kein Wort auch erwähnte er darüber, dass von paramilitärischen Organisationen wie der SA eine erneute Aufrüstung betrieben wird. Viele der Kundgebungsteilnehmer stimmten den verklausulierten Redeinhalten lauthals zu. Aber es sind genauso massenhaft politische Gegner auf dem Platz. Handfeste Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern und Widersachern der NSDAP waren die Folge der Rede.
Die Nationalsozialisten sind es gewöhnt, angefeindet zu sein. Sie legen es sogar bewusst darauf an. Hier wie anderswo, wo die NSDAP Hetzreden hält, planen sie es ein. Die Parolen und Ansichten der Braunhemden werden ohne Rücksicht auf potenzielle Verletzte durchgepeitscht. Mit ihren Ordnern, verkappten Mitgliedern der SA, knüppelt man andersdenkende rücksichtslos nieder. Es war bereits so weit gekommen, dass die Staatsmacht der Weimarer Republik kaum noch Handhaben fand, den aggressiven Stil der Kundgebungen zu unterbinden.
Rudolf und Lotte als aufmerksame Zuhörer genossen am Ende der Massenversammlung in einem Gartenlokal noch eine Eisbombe und diskutierten über das, was sie inmitten der vielen Zuhörer erlebt hatten. Der Redestil des Joseph Göbbels gefiel Lotte überhaupt nicht. es klang fast so, meinte sie, wie wenn der Hitler im Radio spricht, mit krächzender, sich manchmal überschlagender Stimme. Zum Inhalt der Rede konnten Lotte und ihr Freund gewisse Gemeinsamkeiten finden.
Es gab reichlich Stoff zum Diskutieren unter R.H. und seiner Freundin. Was lässt die Zukunft für sie erwarten? Schwer zu analysieren, doch ein ereignisreicher Tag ging für beide zu Ende. Der Zug brachte Rudolf zurück nach Freiberg. Die ganze Fahrt über begleitete ihn ein unbeschreibliches Glücksgefühl.
*
Anton, der Rübenauer, befindet sich ebenfalls in Hochstimmung. Er durchlebt die Gefühle eines Homberich, eines Verliebten. Nie bisher war ihm ein Mädchen so begehrenswert vorgekommen. Das also ist die Liebe, für die man alles tut?
Der auf Amors Flügeln schwebende hofft, dass es mit der tschechischen Jana mehr als nur ein Techtelmechtel sein würde. Beide stellten viele menschliche Gemeinsamkeiten aneinander fest, die Chemie scheint zu stimmen und das, obwohl sie erst zweimal ein Treffen hatten. Anton war aber noch aus einem anderen Grund in freudiger Stimmung, denn der Arbeitgeber, die Nagel- und Waffenschmiede, erhielt in der letzten Zeit verstärkt Aufträge. Besonders war ein neuartig konzipiertes Gewehr nachgefragt. Es entwickelte sich zu einem wahren Verkaufsschlager. Das freute natürlich die Geschäftsleitung, doch womit war dieser plötzliche Boom zu erklären? Weitere Mitarbeiter wurden daher eingestellt, und die Stammbelegschaft profitierte von höheren Löhnen. Anton sah eine rosige Zukunft für sich, seine Familie Grynszpan. Sogar Jana schloss er schon darin ein.
Vater und Mutter hatten sich aus Altersgründen aus dem Geschäft mit den erzgebirglerischen Holzarbeiten zurückgezogen. Die Tochter Emma, die mit den schwarzen, listigen Augen und den gefühlvollen Händen, wie auch Bruder Artur, der Gehbehinderte, bearbeiteten jetzt diese Erwerbsquelle. Joseph, der Jüngste, ist 17 Jahre und hat den beschwerlichen Transport der Rohware von der Manufaktur aus Olbernhau übernommen. Die fertig zusammengeleimten, geschliffenen und bemalten Kunstwerke brachte er, ansprechend verpackt, auf gleichem Weg zurück.
Wenn es einmal finanziell eng wurde, fühlte sich Anton als der Meistverdienende, der weiterhin im Elternhaus wohnt, verpflichtet, einzuspringen. Das gebot ihm seine christliche Erziehung, das Gefühl für Mitmenschlichkeit. Auch Jana wird das so an ihm empfunden haben. Das Problem allerdings ist die Unmöglichkeit, jederzeit Kontakt zueinander aufnehmen zu können. Es wird also stets nur zu spontanen Besuchen kommen, immer dann, wenn Anton freie Zeit hat. Und die ist knapp bemessen wegen der massenhaften Aufträge in der Firma.
Nach den beiden Treffen, die sie bisher genossen– zuletzt auf der Kirmes–, drängte es den Deutschen, Jana wiederzusehen. Er hatte nicht mehr die Befürchtung, dass ein anderer sie ihm abspenstig machen könne.
Drei lange Wochen waren es jetzt her, dass sie sich trafen. Anton kann es nicht erwarten, erneut zum Wohnort seines Schätzchens zu wandern. Am nächsten Sonntag wird er wieder frühmorgens losziehen, um die Freundin beim Kirchgang zu treffen.
Am Grenzübergang das bekannte Spiel:
» Morschn, Andon, do bischt jo wieda, bist a Homberich?, schie wieda nach Kalek?«
»Jo, `s pressiert«.
Die Wegstrecke ist überschaubar, das Wetter hervorragend, die Natur erwacht. Rechtzeitig zur Andacht erreichte er die Kirche. Und da kam sie, zusammen mit dem Vater, freudestrahlend auf ihn zu. Neidische Blicke der Dörfler trafen Anton. Miteinander betrat man in das Gotteshaus und wurde freundlich vom Pastr begrüßt. In einer der vorderen Bankreihen nahmen sie gemeinsam Platz. Auch wenn Anton nicht katholisch ist – Jana und ihr Vater störten sich nicht daran. Nach dem Gottesdienst, in dem der Pater beiläufig die bedrohliche Weltwirtschaftslage ansprach, verbringt man wie vor Wochen schon im Wirtshaus die Mittagszeit. Der Wirt erkannte Anton auch gleich wieder. Er freute sich über den deutschen Besucher, denn der ließ immer ein nettes Sümmchen zurück.
Die drei setzten sich wie selbstverständlich, wo andere bereits Platz genommen hatten, Jana nur unter Männern. Es war für Frauen nicht üblich, den Kirchgang im Gasthaus zu beenden. Die Weibsen haben gefälligst im Haus für das Mittagessen der Mannsbilder zu sorgen! Aber in diesem Fall war es verzeihlich. Anton ist Gast in Kalek, doch ihn jetzt bereits im eigenen Heim einladen?? Eventuell beim nächsten Besuch, mal sehen.
Die Tischrunde kam in ein angeregtes Gespräch, doch zunächst wurden Anton und Jana durch den Kakao gezogen. Das ist oft so, wenn zwei sich gefunden haben. Dann kamen bedrohliche Themen der Wirtschaftslage zur Sprache. Auf dreckige Witze, die Männer sonst so am Biertisch erzählen, verzichtete man heute weitgehend. Janas wegen.
Die Politik hat für Biertischgespräche immer herzuhalten, wenn sich daraus auch selten einvernehmliche Ansichten ergeben. Die großen Probleme werden anderswo zu lösen versucht. Doch ein Thema wurde hier heiß diskutiert, und zwar das Erstarken der rechtsgerichteten Parteien in Deutschland. Das flößt den Menschen in Böhmen zunehmend Angst ein, sobald sie von den Hasstiraden der Goebbels, Himmlers, Streichers und Hitlers hören. >Heim - ins - Reich - Parolen< der deutschsprachigen Grenzgebiete im Süden und Osten des Landes der Dichter und Denker werden immer lauter und offener ausgesprochen. Die Weimarer Republik fand kein Gegenmittel, weil sie in sich zerstritten ist.
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