Dieser deutsche Anton Grynszpan aus Rübenau wird doch nicht etwa ein verkappter Nazi sein? Ein Spion, der sich an Mädchen heranmacht, um über solche Kontaktpersonen an irgendwelche Geheimnisse oder nur die Ansichten der Bevölkerung heranzukommen? Man wird ihn beobachten müssen, auch wenn man so etwas dem liebenswürdigen Anton nicht zutrauen mag. Wer weiß es? Denn besonders, wenn jemand sich einschmeichelt, kann er gefährlich sein. Und das geht gut über eine Liebschaft. Ein Trojaner also.
Die Biertischpolitiker waren längst nach Hause gestiefelt, zu Muttern an den Mittagstisch. Nur Anton, Jana und ihr Vater ließen sich hier im Gasthaus verköstigen. Der Deutsche hat das nötige Kleingeld, und er sagte auch, weshalb.
Man kam auf Antons Arbeit zu sprechen, auf die Massenherstellung von Gewehren. Janas Papa sprach dabei einen schwerwiegenden Gedanken aus: Könnten diese vielen Schusswaffen etwa im Auftrag der paramilitärischen Organisationen, der SA und anderer, fabriziert werden? Fragen, die Anton sich bisher überhaupt nicht gestellt hat.
Das gibt ihm mehr als zu denken. Er grübelt, beginnt, manches differenzierter zu betrachten. Dass er aber als Spion beobachtet würde, kam ihm nicht in den Sinn. Doch heute war er mit seiner Freundin zusammen, Janas Vater hatte die Beiden nach dem Mittagessen sich selbst überlassen. Jana war ja inzwischen 22 Jahre, da konnte sie, auch in Böhmen, selbstständig über sich bestimmen.
Die jungen Leute genießen es, in der waldreichen Umgebung von Kalek den Nachmittag zu verbringen. Heute regnet es nicht wie beim letzten Besuch. Verwunschene Waldwege gehen sie entlang, auf einer Waldlichtung entdecken sie einen Baumstamm und lassen sich darauf von durch die Baumwipfel schimmernden Sonnenstrahlen verwöhnen. Vereinzelt schon rascheln Blätter von den Bäumen, wochenlange Trockenheit, aber auch der nicht mehr allzu ferne Herbst macht sich bemerkbar. Schwalben erjagen sich ihr Mahl hoch im Azur.
Jana ahnt nicht, dass man Anton insgeheim verdächtigt, hier etwas ausspionieren zu wollen. Auch wenn man sie informiert hätte–sie würde es schwerlich glauben. Anton ist ein zuvorkommender, zurückhaltender Mensch, immer freundlich, nie sich in den Vordergrund drängend. So jemand wird kein Spion sein! Oder etwa doch? Jana fühlt sich wohl. ja glücklich im Beisein Arnolds. Sie kuschelt sich in seine Arme, zärtlich streichelt er ihre dunkelblonden Haare aus der Stirn, küsst sie liebevoll auf ihre vorwitzige kleine Nase. Leider geht der wunderschöne Tag wieder dem Ende zu. Jana schlug ein weiteres Treffen vor, was für Anton ein Beweis ihrer Zuneigung ist. Hier im Wald busselte er sie, aber vor ihrem Elternhaus, wo er sie dann artig ablieferte, traute er es sich noch nicht.
» Denn guet Omd un Glig aaf « sind ihre Abschiedsworte, und » i hob di liab« sagte Anton sehr verschämt. Sie winkten sich zu, und somit ist er um die nächste Ecke verschwunden. Von den Dorfjugendlichen hat er niemanden mehr gesehen, die haben sich offenbar damit abgefunden, dass Jana für sie verloren ist. Es gibt ja schließlich weitere Mädchen im Ort, doch so eines wie Jana? Warum musste der Deutsche bloß hierher kommen!
Von den Erlebnissen des Tages beflügelt, ist für ihn die Strecke bis zur Grenze schnell geschafft. Längst bekannte Begrüßungsworte: »Do bischt jo wieda« und die Antwort »jo, itze giehts hamm« wurden gewechselt. Seine Eltern freuten sich, dass Anton ohne Blessuren und mit lachenden Augen wieder in Rübenau ist. Natürlich sind sie wissensdurstig, etwas über die Errungenschaft des ältesten Kindes zu erfahren, aber sie warten ab, bis er selber darauf zu sprechen kommt. Derzeit ist er noch nicht bereit dazu.
Die nächste Arbeitswoche beginnt wie üblich früh um sechs. Obwohl Anton darüber erfreut ist, eine Menge Arbeit zu haben, Gedanken macht er sich durchaus, was mit den vielen Gewehren passiert. Zunächst hatte er gemeint, dass es Ausrüstungen für Jäger wären, und dann, für Privatpersonen. Doch diese Vielzahl und auch die Kaliber sprachen dagegen. Also würde es sich faktisch um militärische Aufträge handeln, wie man es in Kalek vermutet. Das macht ihm Sorgen angesichts borstiger werdender Sitten im politischen Alltag.
Viele Parteien kämpfen um Anerkennung und weitere Mitglieder, und besonders aggressiv die 1925 wieder gegründete NSDAP. Aus ihrem Splitterparteien-Image sollte sie herauskommen und durch giftige Werbung Zuläufe bekommen. Dazu dienen die allerorten abgehaltenen öffentlichen Veranstaltungen. Ihre Gegner werden gnadenlos niedergeknüppelt. Adolf Hitler übernahm erneut den Vorsitz dieser rechtsradikalen Partei, nachdem er vorzeitig aus der Haft entlassen worden ist.
In Rübenau, Marienberg und den umliegenden Orten ist weiterhin alles bedächtig. Es gibt hier keine emotionell aufgeheizten Parteiveranstaltungen, in den nahe gelegenen Städten Dresden, Leipzig und Chemnitz aber durchaus. Weil es in Rübenau so beschaulich ist, hatte Anton von den aufflammenden Hetzkampagnen bisher nichts mitbekommen. Er ist völlig ahnungslos, geht seiner Arbeit nach und freut sich des Lebens. Er wartet ungeduldig auf das verabredete Wiedersehen mit Jana.
Zwei Wochen Vorfreude– wie die Zeit doch schleichend vergeht, wenn man etwas Glückseligkeit herbeisehnt. Genauso ergeht es Kindern, wenn sie auf ihren bevorstehenden Geburtstag oder auf Weihnachten warten. Haben ihre liebevoll geschriebenen und verzierten Briefe an den Weihnachtsmann ihn auch erreicht?
Das Eigenartige allerdings ist, dass mit zunehmendem Alter die Zeit immer geschwinder dahineilt – nicht wirklich, aber in der Wahrnehmung. Wie kann das sein? Da haben sich schlaue Zeitgenossen bereits lange den Kopf drüber zerbrochen. Bücher sind geschrieben worden über das Phänomen, doch eine wissenschaftliche Erklärung hat man dafür bisher nicht gefunden.
Na ja, die vierzehn Tage bis zum Wiedersehen vergehen auch, und Anton machte sich am Sonntagmorgen erneut auf Tour. Ist ja nicht allzu weit, das schafft er mit langen Wanderschritten ruck, zuck. Es war schon kühler geworden, der Wald ist durchsichtiger. Die obligatorische Flachserei an der Grenze, dann war er bald in Kalek an der Kirche. Er war verfrüht angekommen, weil er weiter ausgreifend gewandert war. Daher setzte er sich–war ja günstiges Wetter, wenn auch ein wenig frisch am Morgen–, auf eine Bank vor dem Gotteshaus und wartete.
Viele Kirchgänger kamen und traten in das Kirchengebäude ein. Das etwas schüchtern klingende Glöckchen läutete, einige Leute grüßten Anton – aber Jana und ihr Vater tauchen nicht auf. Sie sind doch verabredet, deshalb versteht er nicht, weshalb sie nicht erscheint. Kann es sein, dass die Liebelei so abrupt endet? Es fröstelt ihn, er fühlt sich wie bestellt und nicht abgeholt. Ich werde mich in Jana doch nicht derart getäuscht haben, sinniert Anton. Wird sie und der Alte, vielleicht auch andere, am Ende meinen, dass Anton wahrhaftig spioniert? Ärgerlich ist er nicht, nur unglücklich, abgrundtief betrübt.
Aus der offen stehenden Kirchentür hört er die kath. Liturgie, aber einsam hineingehen mochte Anton nicht. Er ist ja kein Katholik. Soll er zu Janas Elternhaus gehen? Er weiß ja, wo es steht. Wenn man ihn allerdings tatsächlich versetzt hat, würde er dort keinen Einlass finden. Er wartete weiter und hoffte, dass er eine Erklärung, in welcher Form auch immer, dafür erhält, weshalb seine Jana nicht gekommen ist.
Die Begründung kam dann um die Kirchenecke. Es war Janas Vater. Mutterseelenallein. Anton bekam einen Schreck; war da was passiert?
Papa Plicka begrüßte Anton recht freundlich, ja vertraut wie immer, und sagte ihm den Grund, warum die Tochter nicht mitgekommen ist: Sie hat sich bei einem Treppensturz einen Mittelfußknochen gebrochen und dazu ein Nackentrauma erlitten. Da kann sie natürlich nicht außer Haus, und deshalb schlug Janas Vater dem jungen Mann vor, sein Mädel Daheim zu besuchen.
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