Rudolf musste nachziehen, wenn er nicht als Feigling gelten wollte. Auch er verzog sich in eines dieser kleinen Häuschen und kam mit einer der langbeinigen, gestreiften Badehosen wieder heraus, die wie ein Hemd selbst seinen Oberkörper bedeckte. Die Mode ist dem Zeitgeist angepasst, und so erlebten sich die beiden in einem ungewohnten Dress. Wenn sie nicht gewusst hätten, wer sich darin verbirgt, würden sie sich nicht erkannt haben. Heute lachhaft, so ein Outfit.
Zunächst kam ihnen ihre Situation recht unangenehm vor, doch die glühend strahlende Sonne zwang sie, sich Abkühlung zu verschaffen. Als sie dem Wasser wieder entstiegen, klebte das nasse Zeug an ihren Körpern und zeigte jetzt alle Konturen. Damit war der Bann gebrochen. Neidisch blickende Nachbarn erheiterten Lotte und Rudolf daraufhin nur noch. In dieser Weise freizügig bekleidet, hatten die beiden sich bisher nicht erblickt.
»Dass iech dos drlahm ka« war die schamhafte Feststellung des Hinnerwalders R.H. aus Rübenau. Aber schön war es, der stundenlange Nachmittag im Freibad. Vom Baden konnten sie nicht genug bekommen, obwohl andere Leute neugierig herüberschielten . Der herrliche Tag ging in den frühen Abend über, und R.H. musste sehen, dass er seinen Zug zurück nach Freiberg bekam. Lotte brachte ihn zum Bahnhof– ein langer, verschämter Kuss zum Abschied. Hat sie wirklich niemand beobachtet? Das kommende Wochenende war fest eingeplant.
Der VÖLKISCHE BEOBACHTER ließ R.H. keine Ruhe. Auf der Rückfahrt hatte er wieder viel Zeit, die Seiten zu studieren. Ständig beschäftigten ihn die Reden des Adolf Hitler, die in gekürzter Fassung in dieser NSDAP-Parteizeitung abgedruckt sind. Weil Rudolf sich intensiv mit Geschichte überhaupt, mit aktuellen Vorkommnissen besonders befasste, kamen ihm manche Passagen aus den Beiträgen reichlich überzogen vor. Oder könnte er Verschiedenes bei seinem Lerneifer doch nicht präzise verstanden haben? Er kam nicht umhin, dieses und jenes genauer zu hinterfragen, denn es gibt einige Diskrepanzen zwischen den Redetexten und dem eingepaukten schulischen Wissen!
R.H. ist jemand, der keinesfalls alles für bare Münze nimmt; es muss schon in sich schlüssig sein. Wenn Hitler als rhetorisch gewiefter Redner in der NSDAP vom Weltjudentum und dessen Vernichtung sprach, hatte er besonders in Bayern regen Zulauf. Aufgrund seiner Agitationen, die keine Berechtigungen haben, erreichte Hitler 1921 den Vorsitz in der Organisation, die später als NS-Partei benannt worden ist. Bei der Reichstagswahl von 1928 erzielte diese als antisemitisch aufgestellte Vereinigung nur 2,6 % der Stimmen. Intern führte das zu der Anordnung, die Diskriminierung von Juden öffentlich nicht mehr zu propagieren.
Der junge Herr Haub bleibt bei seinen Zweifeln. Einerseits unterstützt er die Forderungen der National-Sozialisten nach Aufhebung der Versailler Verträge, weil Deutschland dadurch wirtschaftlich schwer geschädigt wird. Andererseits lehnt er die Argumentationen über Semiten ab. Nachvollziehen kann er nicht, dass eine altruistische Religion schuld an den vielen, monetären Verwerfungen sein soll.
Die bisherigen Anfeindungen auf den Rednerveranstaltungen sind offiziell nicht mehr erkennbar. Daher meinte der potenzielle Wähler, dass das Parteiprogramm in der Judenfrage geändert und die NS somit wählbarer geworden sei. Auch R.H. ließ sich davon täuschen.
Was gab es sonst an den langen Abenden, wenn man einsam und alleine wohnt. Fernsehen war noch nicht erfunden, Rundfunkempfänger besaß ebenfalls nicht jeder. Dazu es war es eine Zumutung, das Gekrächze darin zu hören. Wer konnte sich schon ein Grammofon leisten, um Musik von schwarzen Schellackplatten mit den feinen Rillen und dem überdimensionalen Schalltrichter zu 'genießen'. Diese Musikgeräte erinnerten fatal an die Hörrohre alter, behinderter Menschen. Da blieb nur der späte Spaziergang oder eben...... der Sport- oder Wehrsportverein. Hier brachte Rudolf sich mit voller Hingabe ein. Neben den Leibesübungen werden ihm poe à poe auch verschiedene Verwaltungsaufgaben übertragen. Er sei ja kaufmännischer Angestellter im Bergbaumuseum, da könne er doch solche Verwaltungstätigkeiten übernehmen! Na klar, ihm gefiel so was, da vermochte er zu zeigen, was er gelernt hat.
Derartige Aufgaben stärkten sein Selbstbewusstsein. Anders als in Rübenau gelang R.H. hier etwas zu bewegen, auch wenn er nur ein kleines Licht ist. Nach einiger Eingewöhnung wird man die Anforderungen höherstufen. Rudolf behagen solche Rollen, wie man sie ihm übertragen hat.
So kam er zunächst langsam, dann rascher, nachdem seine Fähigkeiten näher erkannt worden waren, in eine mitverantwortliche Position. Er bemerkte erstaunt, dass er sich vom Pimpf, der im Grunde nur Sport betreiben wollte, plötzlich in eine untere Führungsposition der NS-Partei versetzt wiederfand.
Das hatte er in dieser Art nicht gewollt, denn R.H. war bisher bewusst ein durch und durch unpolitischer Zeitgenosse. Aber man gab ihm zu verstehen, dass es erwünscht und für die sportliche wie berufliche Laufbahn vorteilhaft sei, sich der politischen Mitarbeit nicht zu verweigern. So fängt man also Mäuse, bemerkt Rudolf reichlich spät und war mit solchen Methoden keinesfalls einverstanden. Doch er liebte den Sport in der Wehrsportgruppe, und seinen Arbeitsplatz wollte er auch nicht gefährden. Daher musste er sich diesen sanften Winken mit dem Zaunpfahl beugen.
Nach relativ gefestigter Wirtschaftslage in den Jahren 1924 – 1928 zogen dunkle Wolken am Himmel auf. Die Weltwirtschaftskrise 1929 warf ihre bedrohlichen Schatten voraus, welche mit dem New Yorker Börsenkrach im Oktober begann. Industrieproduktionen fuhren weltweit massiv zurück. Neben vereinzelten Gewinnern in der Krise, die es immer gibt, waren aber viele europäische Völker, nicht nur Deutsche, von zunehmender bis extremer Armut betroffen. Wie stets, wenn sich Probleme ergeben, hat der 'kleine Mann' im Besonderen zu leiden. In derartigen Situationen haben vorwiegend die radikal orientierten Parteien vom linken und rechten Spektrum gewaltigen Zulauf. Allen voran die NSDAP, unterstützt von ihrem Vorkämpfer SA und den semimilitärischen Volkssportgruppen, setzte sich an die Spitze einer eigene Wege gehenden Volksbewegung.
Von den Zugpferden und rassistischen Rednern Hitler, Goebbels, Göring und Rosenberg, um nur einige zu nennen, wurde die NSDAP gezielt und aggressiv nach vorne gepuscht. Namentlich Adolf Hitler mit raukehliger, unsympathischer Stimme zog die Menschen eigenartigerweise in seinen Bann. Erklärlich war das wohl nur mit der Angst der Bevölkerung vor abermaliger Armut und Hungersnöten. Viele Bürger aus den unteren Bevölkerungsgruppen hatten in den Nachkriegsjahren und Zeiten der Hyperinflation solche Notzeiten erlebt, leider aber nicht das Wissen, die Spreu vom Weizen zu trennen.
Bisher abwartend oder ablehnend eingestellte Volksgenossen fanden sich jetzt auf den Massenveranstaltungen ein. Wie auch R.H., als er sich wieder mal zu einem Besuch in Chemnitz aufhielt. Zuerst war es nur Neugierde, eventuell der Wunsch nach Abwechslung, einmal etwas anderes zu erleben als das ständige Aufsuchen von Kinos und Kaffees. Eine öffentliche Kundgebung war mal was neues.
Lotte hatte sich länger schon im BDM, dem 'Bund deutscher Mädel', mit Hingabe betätigt. Nicht vom gradlinig denkenden Mitglied erkennbar, wurden die Teilnehmenden durch Rote-Kreuz-Kurse, Speisenzubereitung und hauswirtschaftliche Betätigungen auf die 'ehrbare' deutsche Hausfrau und Mutter vorbereitet.
Das Gegenstück dazu war die HJ, die Hitlerjugend, in der R.H. nicht Mitglied ist. Aus dem Jugendalter ist er herausgewachsen, als Sportbegeisterter schwitzt er vorzugsweise in den Volkssportgruppen. Dort kämpft er sich ab.
Der Bund deutscher Mädchen, die Hitlerjugend ebenso wie die Volkssport-Gruppierungen sind Unterorganisationen der NSDAP. Den nur auf ihren Sport fixierten Teilnehmern ist das aber zunächst nicht erkennbar. Daher ist es für Lotte und Rudolf Ehrensache, an dieser ersten Volksveranstaltung in Chamz teilzunehmen. Einwohner der am Nordrand des Erzgebirges liegenden Großstadt nennen sich selber Chamzer, während die Stadt auf Hochdeutsch Chemnitz heißt.
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