der Vorzeit, von denen es heißt, sie wären gleich schwarzgrünem Gold gewesen, ähnlich gehabt haben mögen.
"Seit der Mond, der Wanderer, am Himmel kreist", sprach der Jude weiter, "bin ich auf der Erde. Ich habe
Menschen gesehen, die waren wie Affen und trugen steinerne Beile in den Händen; sie kamen und gingen von Holz" –
er zögerte eine Sekunde – "zu Holz, von der Wiege zum Sarg. Wie Affen sind sie noch immer – und tragen Beile in
den Händen. Es sind Abwärtsstarrer und wollen die Unendlichkeit, die im Kleinen verborgen liegt, ergründen.
Daß im Bauch der Würmer Millionen von winzigen Wesen leben und in diesen wieder Milliarden, haben sie
ergründet, aber noch immer wissen sie nicht, daß es auf diese Art kein Ende nimmt. Ich bin ein Abwärtsstarrer und ein
Aufwärtsstarrer; das Weinen habe ich vergessen, aber das Lächeln habe ich noch nicht gelernt. – Meine Füße sind naß
gewesen von der Sintflut, aber ich habe keinen gekannt, der Grund zum Lächeln gehabt hätte; mag sein, ich habe ihn
nicht beobachtet und bin an ihm vorübergegangen.
Jetzt spült an meine Füße ein Meer von Blut, und da soll einer kommen, der lächeln darf? Ich glaub's nicht. – Ich
werde wohl warten müssen, bis das Feuer selbst Woge wirft."
Der Fremde zog sich den Zylinder über die Augen, um das schreckliche Gesicht, das sich immer tiefer in seine Sinne
einfraß und seinen Atem stocken machte, nicht länger zu sehen, und daher bemerkte er nicht, daß der Jude zum Pult
zurückging, die Verkäuferin auf den Zehenspitzen an seine Stelle trat, einen Totenkopf aus Papiermaché, ähnlich dem
in der Auslage, aus dem Schrank nahm und geräuschlos auf ein Taburett stellte.
Als dem Fremden plötzlich der Hut vom Kopf rutschte und zu Boden fiel, hob sie ihn blitzschnell auf, noch ehe sein
Besitzer danach greifen konnte, und begann gleichzeitig ihren Vortrag:
"Sie sehen hier, mein Herr, das sogenannte Delphische Orakel; durch es sind wir jederzeit in der Lage, einen Blick in
die Zukunft zu tun und sogar Antworten auf Fragen, die in unserm Herzen" – sie schielte aus unbekannten Gründen in
ihren Busenausschnitt – "schlummern, zu erhalten. Ich bitte, mein Herr, im Geiste eine Frage zu tun!"
"Ja, ja, schon gut", brummte der Fremde, noch ganz verwirrt.
"Sehen Sie, der Schädel bewegt sich bereits!"
Langsam öffnete der Totenkopf das Gebiß, kaute ein paarmal, spuckte eine Papierrolle aus, die die junge Dame
hurtig auffing und entrollte, und klapperte dann erleichtert mit den Zähnen; –
"Ob deiner Seele Sehnsucht in
Erfüllung geht? – Fahr drein
mit fester Hand und setz das
Wollen an der Wünsche Statt!"
stand mit roter Tinte – oder war es Blut? – auf dem Streifen geschrieben.
"Schade, daß ich mir nicht gemerkt habe, was es für eine Frage war", dachte der Fremde. – "Kostet?"
"Zwanzig Gulden, mein Herr."
"Schön. Bitte –", der Fremde überlegte, ob er den Schädel gleich mitnehmen solle, – "nein, es geht nicht, man würde
mich auf der Straße für den Hamlet halten", sagte er sich, "bitte, schicken Sie ihn mir in meine Wohnung; hier ist das
Geld."
Er warf unwillkürlich einen Blick in das Bureau am Fenster, – mit verdächtiger Unbeweglichkeit stand der alte Jude
vor seinem Pult, als hätte er die ganze Zeit über nichts als Eintragungen ins Hauptbuch gemacht, – dann schrieb er auf
einen Block, den die Verkäuferin ihm hinhielt, seinen Namen nebst Adresse:
Fortunat Hauberrisser
Ingenieur
Hooigracht Nr. 47
und verließ, noch immer ein wenig betäubt, den Vexiersalon.
Seit Monaten war Holland überschwemmt von Fremden aller Nationen, die, kaum daß der Krieg beendet war und
beständig wachsenden inneren politischen Kämpfen den Schauplatz abgetreten hatte, ihre alte Heimat verließen und
teils dauernd Zuflucht in den niederländischen Städten suchten, teils sie als vorübergehenden Aufenthalt wählten, um
von dort aus einen klaren Überblick zu gewinnen, auf welchem Fleck Erde sie künftighin ihren Wohnsitz aufschlagen
könnten.
Die billige Prophezeiung, das Ende des europäischen Krieges werde einen Auswandererstrom der ärmeren
Bevölkerungsschichten aus den am härtesten mitgenommenen Gegenden zur Folge haben, hatte gründlich geirrt, und
reichten auch die verfügbaren Schiffe, die nach Brasilien und andern als fruchtbar geltenden Erdteilen fuhren, nicht hin,
die vielen Zwischendeckspassagiere zu befördern, so stand doch der Abfluß der auf ihrer Hände Arbeit Angewiesenen
in keinem Verhältnis zur Zahl derer, die entweder wohlhabend waren und überdrüssig, sich ihre Einkünfte durch den
immer unerträglicher werdenden Druck der heimischen Steuerschrauben zusammenpressen zu lassen – also der
sogenannten Unidealen – oder zur Zahl derer, die bisher in intellektuellen Berufen tätig gewesen, keine Möglichkeit
mehr vor sich sahen, mit ihrem Verdienst den unerhört kostspielig gewordenen Kampf um das auch nur nackte Leben
weiterzuführen.
Hatte schon in den verflossenen Zeiten der Friedensgreuel das Einkommen eines Schornsteinfegermeisters oder
Schweinemetzgers das Gehalt eines Universitätsprofessors weit überstiegen, so war doch jetzt die europäische
Menschheit bereits auf dem Glanzpunkt angelangt, wo der alte Fluch "im Schweiße deines Angesichts sollst du dein
Brot essen" buchstäblich und nicht nur im übertragenen Sinne aufgefaßt werden mußte; – die "innerlich" Schwitzenden
sahen sich dem Elend preisgegeben und gingen aus Mangel an Stoffwechsel zugrunde.
Der Muskel des Armes griff nach dem Szepter der Herrschaft, die Ausscheidungen der menschlichen Denkdrüse
sanken täglich tiefer im Kurs, und saß Gott Mammon auch noch auf dem Throne, so war seine Fratze doch recht
unsicher geworden: – die Menge schmutziger Papierfetzen, die sich um ihn herum angehäuft hatte, verdroß seinen
Schönheitssinn.
Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe, bloß der Geist der Handlungsreisenden konnte
nicht, wie früher, auf dem Wasser schweben.
So war es gekommen, daß sich die große Masse der europäischen Intelligenz auf Wanderschaft befand und von den
Hafenstädten der vom Kriege mehr oder weniger verschont gebliebenen Länder nach Westen spähte, ähnlich dem
Däumling, der auf hohe Bäume kletterte, um nach einem Herdfeuer in der Ferne auszuschauen.
In Amsterdam und Rotterdam waren die alten Hotels bis auf das letzte Zimmer besetzt, und täglich entstanden neue;
ein Mischmasch von Sprachen schwirrte durch die besseren Straßen, und stündlich gingen Extrazüge nach dem Haag,
gefüllt mit ab- und durchgebrannten Politikern und Politikerinnen aller Rassen, die beim Dauerfriedenskongreß ein
immerwährendes Wort mit dreinreden wollten, wollten, wie man der endgültig entflohenen Kuh am sichersten die
Stalltür verrammeln könnte.
In den feineren Speisehäusern und Kakaostuben saß man Kopf an Kopf und studierte überseeische Zeitungen, – die
binnenländischen schwelgten noch immer in den Krämpfen vorgeschriebener Begeisterung über die herrschenden
Zustände, – aber auch in ihnen stand nichts, was nicht auf den alten Weisheitssatz herausgekommen wäre: "Ich weiß,
daß ich nichts weiß, aber auch das weiß ich nicht sicher."
* * *
"Ist denn Baron Pfeill noch immer nicht hier? Ich warte jetzt schon eine volle Stunde", fuhr im Café "de vergulde
Turk", einem dunkeln, winkligen und verräucherten Lokal, das versteckt und abseits vom Verkehr in der Cruysgade
lag, eine ältere Dame mit spitzen Gesichtszügen, zerkniffenen Lippen und fahrigen, farblosen Augen, – der Typus der
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