Gustav Fechner - Das Büchlein vom Leben nach dem Tode

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Gustav Theodor Fechner

Das Büchlein vom Leben nach dem Tode

„Indessen freut es immer, wenn man seine Wurzeln weiter ausdehnt und seine Existenz in andere eingreifen sieht.“

Schiller am 4. April 1797 an Goethe.
Geleitwort von Wilhelm Wundt

Die Zeit, da Fechners philosophische Schriften zuerst in die Öffentlichkeit traten, war für ihre Wirkung die denkbar ungünstigste. Als die drei Bände des „Zendavesta“, dieser umfassendsten Darstellung seiner Anschauungen, im Jahre 1851 erschienen, beherrschten ganz andere Interessen die wissenschaftliche Welt. Die Naturphilosophie hatte gründlich Fiasko gemacht, auch der Stern der Hegelschen Philosophie war verblichen; der Pessimist Schopenhauer harrte in Frankfurt noch immer vergebens der Wiederauferstehung seines vergessenen Werkes, an die damals außer ihm niemand glaubte. Ludwig Feuerbach und in den folgenden Jahren der in seinen Spuren wandelnde physiologische Materialismus kamen dem populären philosophischen Bedürfnisse entgegen, während sich die strengere Wissenschaft auf ihre Spezialgebiete zurückzog und die Philosophie überhaupt meist für einen überwundenen Standpunkt ansah. Wie konnte da ein Werk, das sich schon auf dem Titel als eine Lehre von den Dingen des Himmels und des Jenseits ankündigte, als etwas anderes denn als ein phantastischer Traum erscheinen, der mit Wissenschaft überhaupt nichts zu tun habe!

Fechner hat schwer unter dieser Ungunst der Zeiten gelitten. Er ist nicht müde geworden, die Überzeugungen, die er gewonnen und durch die er sich beglückt fühlte, immer wieder in neuer Gestalt der Welt zu verkünden. Dem „Zendavesta“ ließ er kleinere Schriften folgen, in der Hoffnung, daß die kürzere Form der Verbreitung seiner Gedanken förderlicher sei. In dem Vorwort zu der Schrift „Über die Seelenfrage“ sagt er: Einem Publikum, das sich durchaus nicht aus dem Bette alter Ansichten zurechtfinden könne, habe er zum erstenmal in seinem „Büchlein vom Leben nach dem Tode“ zugerufen: „Steh auf!“ Als man ihn nicht gehört, da habe er wieder und wieder gesprochen: „Steh auf!“ „Jetzt rufe ich ein fünftes Mal, und, wenn ich lebe, werde ich noch ein sechstes und siebentes Mal ‚Steh auf!‘ rufen, und immer wird es nur dasselbe ‚Steh auf!‘ sein. Aber zum Rufe, der eine schlafende Welt aufwecken soll, gehört ein starker Atem; ich bin nur ein Atemzug in diesem Atem.“

Am meisten verwahrt er sich gegen den Namen eines Phantasten. Einen Phantasten, so meint er, nenne man mit Recht denjenigen, der irgendwo im Himmel oder auf Erden Dinge als wirklich annehme, die den sichergestellten Gesetzen der Erscheinungswelt widersprechen und für die sich gar keine Gründe in dem Zusammenhang der Erfahrung aufzeigen ließen. In diesem Sinne sei z. B. die Lehre von der Seelenwanderung phantastisch, oder sei es phantastisch, anzunehmen, daß die menschliche Seele in einer Sonne oder einem Planeten oder irgendwo sonst in einer fernen Welt weiterlebe. Phantastisch sei daher im Grunde auch die ganze heute herrschende religiöse Weltanschauung, weil sie zwischen der Welt unseres gegenwärtigen und der unseres künftigen Daseins gar keine Vermittelungen oder Beziehungen anerkenne. Man zeige mir aber einmal, so fragt er, den Punkt, wo meine Ansicht den feststehenden Tatsachen widerspricht! Man wird diesen Punkt nirgends finden. Im Gegenteil, was ich lehre, das ist aus der Anschauung der wirklichen Natur und des wirklichen Lebens geschöpft. Allerdings ist es in dieser für uns unmittelbar erfaßbaren Wirklichkeit der Dinge nicht selbst schon enthalten. Aber die Philosophie ist ihm überhaupt nicht Sache des Wissens, sondern des Glaubens. Man kann eine Weltanschauung nicht beweisen, wie man einen mathematischen Lehrsatz beweisen kann, und man kann sie nicht empirisch aufzeigen, wie man eine Naturerscheinung beobachten kann. In dieser Beziehung stehen ihm Philosophie und Religion auf gleichem Boden. Die Philosophie steht aber zugleich in der Mitte zwischen Religion und Wissenschaft. Sie hat beide zu versöhnen, indem sie eine Weltanschauung entwickelt, die mit den Ergebnissen der Wissenschaft im Einklang bleibt, während sie den religiösen Gemütsbedürfnissen Befriedigung schafft.

Man sieht, Fechner stellt der Philosophie eine andere Aufgabe, als sie ihr von allen denen gestellt zu werden pflegt, die dieselbe als eine wissenschaftliche ansehen. Von den großen Philosophen der Vergangenheit gibt es kaum einen, der in Fechners Schriften seltener genannt wird als Kant. Von der Forderung Kants, die seitdem ein Axiom der wissenschaftlichen Philosophie geblieben ist, ehe man über das Wesen der Dinge selbst irgend etwas aussage, müsse vor allem die Fähigkeit unseres Erkenntnisvermögens zu solchen Aussagen geprüft werden, von dieser Forderung ist Fechners Philosophie völlig unberührt geblieben. Man würde sich in ihr vergeblich nach etwas umsehen, was als Erkenntnistheorie oder als Ethik im wissenschaftlichen Sinne, als eine kritische Untersuchung der Prinzipien des menschlichen Handelns, angesprochen werden könnte. Darum würde man aber auch diese Philosophie mit einem falschen Maßstabe messen, wenn man den der wissenschaftlichen Philosophie an sie anlegen wollte. Dies will sie grundsätzlich nicht sein. Vielmehr besteht sie ebensowohl in einer Umdeutung der religiösen Glaubensinhalte wie in einer Ergänzung der wissenschaftlichen Ergebnisse, wobei jene Umdeutung und diese Ergänzung in einer Weise vorgenommen werden sollen, daß sich Glaube und Wissen zu einer einzigen, in sich harmonischen, den Wissenstrieb wie das Glücksbedürfnis des Menschen befriedigenden Weltanschauung vereinigen. Darum ist Fechners Philosophie wesentlich Religionsphilosophie oder, vielleicht noch treffender ausgedrückt, Theodizee. Aber sie ist keine Theodizee im Leibnizschen Sinne. Sie macht nicht den Versuch, das christliche Dogmensystem mit einer zunächst unabhängig von ihr entstandenen Philosophie in Einklang zu bringen. Dem Dogma steht Fechner vollkommen frei gegenüber. Es ist ihm eine Hülle, die den religiösen Kern des christlichen Glaubens häufiger verbirgt als schützt. Um so mehr gilt ihm dieser Kern selbst als ein unveräußerliches Gut der Menschheit.

Man wird nach allem dem Fechner recht geben müssen, wenn er den Namen eines Phantasten ablehnt. In der Tat, seine Philosophie ist phantasievoll, aber phantastisch im Sinne eines die Wirklichkeit willkürlich verändernden Spieles der Phantasie ist sie nicht. Freilich bietet sie überall bloße Denkmöglichkeiten. Mehr zu leisten macht sie sich aber auch nicht anheischig. Die Rechtfertigung dieses Standpunktes sieht eben Fechner darin, daß der Glaube überhaupt nicht ein abgesondertes Reich neben dem Wissen sei, sondern daß er mitten in dieses hineinreiche, zur Verbindung und Ergänzung seiner Bestandteile unentbehrlich sei. Wenn wir annehmen, daß andere Menschen ein Bewußtsein in sich tragen, ähnlich dem unsern, oder daß in fernen Räumen und Zeiten des Weltalls nicht weniger wie in der uns umgebenden Welt das Gesetz der Kausalität gelte, so seien auch solche für die Wissenschaft unentbehrliche Voraussetzungen im Grunde nur eine Sache des Glaubens. Vollends die Annahmen über die Materie und ihre Kräfte, über die allgemeinsten Gesetze der Natur und des geistigen Lebens, sie verraten sich schon dadurch als Glaubenssätze, daß in ihnen keineswegs irgendeine Einmütigkeit erzielt ist. Manche von ihnen hält man offenbar nur darum für gewiß, weil man sich an sie gewöhnt hat. Bei diesem Punkte setzt nun Fechners Philosophie ein. Er verlangt, daß man zwischen dem eigentlichen Wissen und dem bloßen Glauben streng unterscheide und daß man nicht Glaubensinhalte deshalb schon als wahr annehme, weil sie uns überliefert oder in allgemeiner Geltung sind. Vielmehr, so unentbehrlich der Glaube sei, um das Wissen zu ergänzen, so könne doch nur dies als das Kriterium eines berechtigten Glaubens angesehen werden, daß er eine solche Ergänzung in befriedigender Weise zustande bringe. Dieses Kriterium versagt nun nach seiner festen Überzeugung bei den Glaubensinhalten der gewöhnlichen Weltansicht, wie sie von der heutigen Wissenschaft sanktioniert ist. Er sieht es dagegen in vollem Maße erfüllt bei seiner eigenen Weltansicht, die in den wesentlichsten Beziehungen die Umkehrung jener ist. Es ist das Bewußtsein dieses Gegensatzes, verbunden mit dem festen Glauben an den beglückenden Inhalt seiner Lehre, was Fechners philosophischen Schriften einen eigentümlichen Reiz verleiht. Er will nicht bloß durch Argumente überzeugen, sondern er hat etwas von dem Geiste eines Propheten in sich, der die Menschheit von eingewurzelten Irrtümern befreien und sie des Glückes der neuen Gottes- und Welterkenntnis teilhaftig machen möchte, die sich ihm selbst offenbart hat.

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