einen Vorhang zur Seite ziehend, unter höflichem: "Als 't u belieft, Mijnheer; hoe gaat het, Mijnheer?", in ein
Nebengemach einzutreten.
"Bitt' schön, vielleicht auch weiter zu kommen", wendete sich die junge Dame wieder an den Fremden und öffnete
ihren Verschlag, "und ein wenig Platz zu nehmen, bis sich die Menge beruhigt hat"; dann eilte sie zur Glastür, die
abermals aufgeklinkt worden war, stieß einen vierschrötigen Kerl, der breitbeinig auf der Schwelle stand und im Bogen
hereinspuckte, mit einer Flut von Verwünschungen: "stik, verrek, god verdomme, fall dood, stek de moord" zurück
und schob den Riegel vor.
Das Innere des Ladens, das der Fremde inzwischen betreten hatte, bestand aus einem durch Schränke und
türkische Portièren abgeteilten Raum mit mehreren Sesseln und Taburetts in den Ecken, sowie einem runden Tisch in
der Mitte, an dem zwei behäbige alte Herren, anscheinend Hamburger oder holländische Kaufleute, mit gebannter
Aufmerksamkeit beim Lichte einer elektrisch montierten Moschee-Ampel in Guckkästen – kleine kinematographische
Apparate, wie das Surren verriet – stierten.
Durch einen dunklen, aus Warenstellagen gebildeten Gang konnte man in ein kleines Bureau mit auf die Seitengasse
mündenden Milchglasfenstern hineinblicken, in dem ein prophetenhaft aussehender alter Jude im Kaftan, mit langem
weißem Bart und Schläfenlocken, ein rundes seidenes Käppi auf dem Haupte und das Gesicht im Schatten unsichtbar,
regungslos vor einem Pulte stand und Eintragungen in ein Hauptbuch machte.
"Sagen Sie, Fräulein, was war das vorhin für ein merkwürdiger Neger?" fragte der Fremde, als die Verkäuferin
wieder zu ihm trat und die Vorstellung mit den drei Gardinenringen fortsetzen wollte.
"Der? Ich, das ist ein gewisser Mister Usibepu. Er ist eine Attraktion und gehört zu der Zulutruppe, die im Zirkus
Carré auftritt. – Ein sehr fescher Herr", setzte sie mit leuchtenden Augen hinzu. "Er ist in seiner Heimat medicinae
doctor – – –"
"Ja, ja, Medizinmann, – ich verstehe."
"Ja, Medizinmann. Und da lernt er bei uns bessere Sachen, um, wenn er wieder heimkommt, seinen Landsleuten
gehörig imponieren zu können und sich gelegentlich auf den Thron zu schwingen. – Der Herr Professor des
Pneumatismus, Herr Zitter Arpád aus Preßburg, unterrichtet ihn grad", – sie hielt mit den Fingern einen Schlitz im
Vorhang auseinander und ließ den Fremden in ein mit Whistkarten austapeziertes Kabinett schauen.
Zwei Dolche kreuzweis durch die Gurgel gestochen, so daß die Spitzen hinten herausragten, und ein blutbeflecktes
Beil tief in einer klaffenden Schädelwunde steckend, verschluckte das Balkangesicht soeben ein Hühnerei und zog es
dem Zulukaffern, der abgelegt hatte und sprachlos vor Staunen, nur mit einem Leopardenfell bekleidet, vor ihm stand,
aus dem Ohr wieder heraus.
Gern hätte der Fremde noch mehr gesehen, aber die junge Dame ließ rasch die Portière fallen, da ihr der Herr
Professor einen verweisendem Blick zuwarf und ein schrilles Klingeln sie überdies ans Telephon rief.
"Seltsam bunt wird das Leben, wenn man sich Mühe gibt, es in der Nähe zu betrachten, und den sogenannten
wichtigen Dingen den Rücken kehrt, die einem nur Leid und Verdruß bringen", dachte der Fremde, nahm von einem
Bord, auf dem allerhand billiges Spielzeug lag, eine kleine offene Schachtel herunter und roch zerstreut daran. Sie war
angefüllt mit winzigen, geschnitzten Kühen und Bäumchen, deren Laub aus grün gebeizter Holzwolle bestand.
Der eigentümliche Duft nach Harz und Farbe nahm ihn einen Augenblick ganz gefangen. – Weihnachten!
Kinderjahre! Atemloses Warten vor Schlüssellöchern; ein wackliger Stuhl mit rotem Rips überzogen, – ein Ölfleck
darin. Der Spitz – Durudeldutt, ja, ja, so hat er geheißen – knurrt unter dem Sofa und beißt der beweglichen
Schildwache ein Bein ab, kommt dann, das linke Auge zusammengekniffen, schwerverstimmt hervorgekrochen: die
Feder des Uhrwerkes ist losgegangen und ihm ins Gesicht gesprungen. – Die Tannennadeln knistern, und die
brennenden roten Kerzen am Christbaum haben lange Tropfbärte. –
Nichts vermag die Vergangenheit so schnell wieder jung zu machen, wie der Lackgeruch von Nürnberger Spielzeug,
– der Fremde schüttelte den Bann ab, "es wächst nichts Gutes aus der Erinnerung: Erst läßt sich alles süß an, dann hat
das Leben eines Tages plötzlich ein Oberlehrergesicht, um einen schließlich mit blutrünstiger Teufelsfratze – – – nein,
nein, ich will nicht!" – er wandte sich dem drehbaren Büchergestell zu, das neben ihm stand. "Lauter Bände in
Goldschnitt?" – Kopfschüttelnd buchstabierte er die wundersamen, ganz und gar nicht zur übrigen Umgebung
passenden, gekerbten Rückentitel: "Leidinger, G., Geschichte des akademischen Gesangvereins Bonn", "Aken, Fr.,
Grundriß der Lehre vom Tempus und Modus im Griechischen", "Neunauge, K. W., Die Heilung der Hämorrhoiden im
klassischen Altertum"? – "nun, Politik scheint, Gott sei Dank, nicht vertreten zu sein" – und er nahm: "Aalke Pott, Über
den Lebertran und seine steigende Beliebtheit, 3. Band" vor und blätterte darin.
Der miserable Druck und das elende Papier standen in verblüffendem Gegensatz zu dem kostbaren Einband.
"Sollte ich mich geirrt haben? Handelt es sich vielleicht gar nicht um eine Hymne auf ranziges Öl?" – der Fremde
schlug die erste Seite auf und las erheitert:
"Sodom- und Gomorrhabibliothek"
Ein Sammelwerk für Hagestolze.
(Jubiläumsausgabe.)
Bekenntnisse eines lasterhaften Schulmädchens.
(Fortsetzung des berühmten Werkes:
Die Purpurschnecke)
"Wahrhaftig, man glaubt die 'Grundlage des zwanzigsten Jahrhunderts' vor sich zu haben: außen brummliges
Gelehrtengetue und innen – der Schrei nach Geld oder Weibern", brummte er vergnügt und lachte dann laut hinaus.
Nervös fuhr der eine der beiden wohlbeleibten Handelsherren von seinem Guckkasten empor (der andere, der
Holländer, ließ sich nicht stören), murmelte verlegen etwas von "wunnerschoenen Sstädteansichten" und wollte sich
schnell entfernen, nach Kräften bestrebt, seinem durch den überstandenen optischen Genuß ein wenig ins
Schweinskopfartige zerflossenen Gesichtsausdruck wieder das altgewohnte Gepräge des unentwegt auf geradlinig
strenge Lebensauffassung gerichteten Edelkaufmanns zu verleihen, da leistete sich der satanische Versucher aller
Schlichtgesinnten in Gestalt eines hämischen Zufalls, aber fraglos in der Absicht, die Seele des Biedermanns nicht
länger im Unklaren zu lassen, in welch frivoler Umgebung sie sich befand, einen höchst unziemlichen Scherz:
Durch eine allzu eilige Flatterbewegung beim Anziehen des Mantels hatte der Handelsherr mit dem Ärmel das
Pendel einer großen Wanduhr in Bewegung gesetzt, und sofort fiel eine mit trauten Familienszenen bemalte Klappe
herunter; nur erschien statt des zu erwartenden Kuckucks der wächserne Kopf nebst spärlich bekleideten Oberleib
einer über die Maßen frechblickenden Frauensperson und sang zum feierlichen Glockenklang der zwölften Stunde mit
verschleimter Stimme:
"Tischlah sejen
"ganz verwejen,
"hobeln flott drauf los;
"fein und glatt
"wird das Blatt – – –"
"Blatt, Blatt, Blatt" – ging es plötzlich, sich rhythmisch wiederholend, in einen krächzenden Baß über. Entweder hatte
der Teufel ein Einsehen oder war ein Haar ins Grammophongetriebe geraten.
Nicht länger gesonnen, neckischen Kobolden zum Opfer zu fallen, suchte der Chef der Meere mit empört
gequäktem "aarch anstößich" fluchtartig das Weite.
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