Lydgate war entschlossen, keine dieser verfehlten Existenzen zu werden, und es stand zu hoffen, daß er diesen Entschluss ausführen werde, weil sein wissenschaftliches Interesse sehr bald die Gestalt eines Enthusiasmus für seinen Beruf annahm. Er brachte seinem Brotstudium einen jugendlichen Glauben entgegen, den selbst seine Lehrlingszeit, jene Einweihung in die notdürftigsten Handgriffe der Praxis, nicht zu ersticken vermochte, und nahm zu seinen Studien in London, Edinburg und Paris die Überzeugung mit sich, daß der ärztliche Beruf, wie er sein könnte, der schönste in der Welt sei, indem er die vollkommenste Wechselwirkung von Wissenschaft und Kunst, die unmittelbarste Verbindung geistiger Errungenschaften mit der Förderung des sozialen Wohles, darbiete. Lydgate's Natur verlangte zu ihrer Befriedigung diese Verbindung; er war ein empfindungsbedürftiger Mensch, dem ein unwiderstehlicher Drang nach hilfreichem Wirken innewohnte, welches aller Absonderung in ein unfruchtbares Spezialstudium widerstrebte. Ihm war es nicht nur um interessante Fälle, sondern um die bei diesen Fällen leidenden Menschen zu tun.
Sein Beruf hatte noch in anderer Beziehung eine besondere Anziehungskraft für ihn. Derselbe bedurfte der Reform und bot einem strebenden, über die bestehenden Missbräuche empörten Menschen hinreichende Veranlassung zu dem Entschluss, die käuflichen Titel und andere bisher übliche Scharlatanerien von sich zu weisen und sich in den Besitz einer ächten, wenn auch nicht geforderten Qualifikation zu setzen.
Lydgate ging zu seiner Ausbildung nach Paris mit der Absicht, sich bei seiner Rückkehr in die Heimat in einer Provinzialstadt als praktischer Arzt für alle Zweige der Heilkunde niederzulassen und sich der irrationellen Trennung zwischen ärztlichem und wundärztlichem Wirken sowohl im Interesse seiner eigenen wissenschaftlichen Zwecke als des allgemeinen Wohles zu widersetzen. Er wollte sich von dem Getriebe der Londoner Intrigen, Eifersüchteleien und gesellschaftlichen Kriechereien fernhalten und doch, wenn auch noch so langsam, durch eine unabhängige Tätigkeit, wie Jenner es getan hatte, Berühmtheit erlangen.
Denn man darf nicht vergessen, daß es noch eine sehr finstere Zeit war, und daß es trotz ehrwürdiger Kollegien, welche große Anstrengungen machten, die Reinheit der Wissenschaft dadurch zu sichern, daß sie dieselbe schwer zugänglich machten und den Irrtum durch eine strenge Ausschließlichkeit fernhielten, vorkam, daß sehr unwissende junge Männer in London promovierten und viele Andere die gesetzliche Befugnis erhielten, in großen Bezirken im Innern des Landes zu praktizieren. So verhinderte auch der hohe Maßstab, welchen das Publikum an das Kollegium der Ärzte anzulegen gewöhnt war – an dieses Kollegium, welches dem kostspieligen und sehr verwässerten medizinischen Unterrichte, wie er den Studenten von Oxford und Cambridge erteilt wurde, seine Sanktion gab –, keineswegs, daß die Quacksalberei in höchster Blüte stand; denn da die ärztliche Praxis hauptsächlich darin bestand, sehr viele Arzneien zu verschreiben, so schloss das Publikum, daß es sich noch besser befinden würde, wenn es noch mehr Arzneien zu sich nähme, sobald dieselben nur billig zu haben wären, und ließ sich daher bereit finden, ungeheure, von gewissenlosen Ignoranten verschriebene Quantitäten von Arzneien zu verschlucken.
Wenn man erwägt, daß die Statistik damals noch nicht festgestellt hatte, daß es, allen Veränderungen der Zeiten zum Trotz, immer eine gewisse Anzahl von unwissenden oder quacksalbernden Ärzten geben muß, so wird man es begreiflich finden, daß Lydgate dafür hielt, eine Veränderung der Einzelnen sei der direkteste Weg, eine Veränderung der Massen zu bewirken. Er wollte an seinem Teil dazu mitwirken, daß eine immer größere Anzahl besserer Elemente den Durchschnittsärzten gegenüberträte, und wollte sich gleichzeitig die Freude bereiten, seine Patienten sofort der segensreichen Wirkung dieses Entschlusses teilhaftig werden zu lassen. Aber mit der rationellen Behandlung seiner Patienten würde er das Ziel seines Strebens noch nicht erreicht haben. Sein Ehrgeiz strebte noch höhere Zwecke an; ihn begeisterte der Gedanke an die Möglichkeit, einer neuen Begründung der anatomischen Wissenschaft die Wege zu bahnen und sich so einen Platz in der Reihe der Entdecker zu sichern.
Scheint es Euch vielleicht abgeschmackt, daß ein praktischer Arzt aus Middlemarch davon träumt, ein Entdecker zu werden? Die Meisten unter uns erfahren herzlich wenig von dem Leben der großen schöpferischen Geister, so lange dieselben nicht unter die Sterne aufgenommen sind und unsere Geschicke beherrschen. Aber wie; war nicht z. B. Herschel, »der die Schranken des Himmels durchbrach,« einst Organist an einer Provinzialkirche und gab stümpernden Schülern Klavierunterricht? Jeder von jenen Sternen erster Größe hatte auf Erden unter Nachbarn zu wandeln, die vielleicht viel mehr an seinen Gang und seinen Anzug als an irgend etwas von Dem dachten, was ihm einen Anspruch auf ewigen Ruhm geben sollte; jeder von ihnen hatte seine persönliche Local-Geschichte mit ihren kleinlichen Versuchungen und quälenden Sorgen, welche seiner endlichen Aufnahme in die Genossenschaft der Unsterblichen hindernd in den Weg traten.
Lydgate war nicht blind gegen die Gefahren solcher Hindernisse, aber er hoffte im Vertrauen auf die Energie seines Entschlusses zuversichtlich, denselben aus dem Wege gehen zu können, und glaubte, da er bei seiner Niederlassung in Middlemarch bereits siebenundzwanzig Jahre alt war, sich auf seine Lebenserfahrungen verlassen zu dürfen. Er wollte sich daher den Versuchungen der Eitelkeit, wie sie in den glänzenden Erfolgen einer hauptstädtischen Karriere liegen, nicht aussetzen, sondern wollte seine Tage unter Leuten zubringen, die als Rivale bei der Verfolgung einer großen Idee, welche im engsten Zusammenhang mit einer eifrigen Betreibung seines Berufs den Hauptzweck seines Lebens ausmachen sollte, nicht in Betracht kommen konnten. Es lag für ihn etwas Bezauberndes in der Hoffnung, daß diese beiden Lebenszwecke befruchtend und erleuchtend auf einander wirken würden; die sorgfältigen Beobachtungen und Schlussfolgerungen, welche seine tägliche Beschäftigung ausmachten, der Gebrauch der Lupe in besonderen Fällen, würden sein Denken zur Vornahme tiefer gehender Untersuchungen nur um so fähiger machen. War das nicht der charakteristische Vorzug seines Berufs? Er würde ein guter praktischer Arzt in Middlemarch sein und sich grade durch diese Praxis auf der Spur weitreichender Forschungen erhalten.
In einem Punkte kann er dabei gewiß auf unsere Zustimmung rechnen: er wollte es nicht jenen philanthropischen Mustern nachtun, welche aus giftigen Mixturen pekuniären Vorteil ziehen, während sie öffentlich alle Verfälschungen brandmarken oder Inhaber von Aktien einer Spielhölle sind, um sich durch diesen heimlichen Erwerb in den Stand zu setzen, öffentlich als Vorbilder der Sittlichkeit und Respektabilität dazustehen. Er beabsichtigte mit einigen besonderen Reformen in seiner Praxis zu beginnen, welche er ins Werk zu setzen vollkommen im Stande war und bei welchen es ein viel geringeres Problem als die Darlegung eines anatomischen Systems zu lösen galt.
Eine dieser Reformen sollte darin bestehen, daß er, unter Berufung auf eine kürzlich erlassene gesetzliche Entscheidung, einfach Arznei verschreiben wollte, ohne sie selbst zu verabreichen oder sich von Apothekern Prozente geben zu lassen. Das war von einem jungen Manne, der sich als praktischer Arzt in einer Provinzialstadt niederlassen wollte, eine gefährliche Neuerung, welche von seinen Berufsgenossen voraussichtlich wie eine beleidigende Kritik ihres Verfahrens aufgenommen werden würde. Aber Lydgate wollte auch in seiner Behandlung der Kranken Neuerungen einführen, und er war weise genug einzusehen, daß eben die gänzliche Enthaltung von der Dispensation von Arzneien die beste Garantie dafür sei, daß er auch in der Praxis redlich seiner Überzeugung folgen werde.
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