Lydgate's Flecken niedriger Gesinnung erwuchsen aus der Art seiner Vorurteile, welche, trotz seiner edlen Absichten und sympathischen Gefühle, zum guten Teil dieselben waren, die wir bei gewöhnlichen Weltleuten finden; die Hoheit der Gesinnung, welche seinem geistigen Eifer eignete, erstreckte sich so wenig auf seine Gefühle und sein Urteil über häusliche Einrichtung und über Frauen, wie auf seine Vorstellungen davon, wie wünschenswert es sei, daß man, ohne daß er es zu sagen brauche, wisse, daß er von besserer Herkunft als andere praktische Ärzte in der Provinz sei.
Er dachte für den Augenblick noch nicht an seine häusliche Einrichtung; es stand jedoch zu fürchten, daß, sobald er sich einmal einrichten würde, weder sein Interesse für Anatomie und Physiologie noch seine Reformpläne ihn über das niedrige Gefühl hinwegheben würden, daß es unverträglich mit seiner Stellung sein würde, nicht auf das Beste eingerichtet zu sein.
Für seine Ansichten über das weibliche Geschlecht war ein Verhältnis, in welchem er schon einmal zu einer Frau gestanden hatte, wesentlich maßgebend. Durch die wilde Leidenschaft, von der er damals ergriffen gewesen war und die er überwunden hatte, glaubte er sich für alle Zukunft gegen ähnliche Verirrungen geschützt. Für diejenigen, welche Lydgate kennen zu lernen wünschen, wird es willkommen sein, etwas Näheres über jenes Verhältnis zu hören, denn die Erzählung dieses Erlebnisses wird am besten zeigen, welcher leidenschaftlichen Verirrungen er fähig, zugleich aber auch, wie groß seine ritterliche Herzensgüte war, die soviel dazu beitrug, ihn sittlich liebenswert zu machen. Die Geschichte ist bald erzählt. Sie trug sich zu, als Lydgate in Paris studierte, und zwar grade zu einer Zeit, wo er neben seinen übrigen angestrengten Arbeiten noch mit galvanischen Experimenten beschäftigt war.
Eines Abends fühlte er sich von dem langen, bis jetzt erfolglosen Experimentieren ermüdet und beschloss, seinen Fröschen und Kaninchen eine Erholung von den unerklärlichen Schlägen, denen sie sonst fortwährend ausgesetzt waren, zu gönnen und seinen Abend im Theater Porte Saint Martin zu beschließen, wo ein Melodrama gegeben wurde, welches er bereits mehrere Male gesehen hatte und welches ihn interessierte, nicht wegen der von mehreren Autoren gemeinschaftlich verfaßten Dichtung, sondern wegen einer Schauspielerin, deren Rolle es mit sich brachte, daß sie ihren Geliebten, indem sie ihn irrtümlich für den Bösewicht des Stücks, einen Herzog, hielt erstach.
Lydgate hatte sich in diese Schauspielerin verliebt, wie ein Mann sich in eine Frau verliebt, von der er nicht glaubt, daß er sie jemals werde sprechen können. Sie war eine Provençalin, mit dunklen Augen, einem griechischen Profile, jener majestätischen Fülle der Formen, welche selbst jugendlichen Gestalten etwas anmutig Matronenhaftes verleiht, und einer sanft girrenden Stimme. Sie war erst kürzlich nach Paris gekommen und erfreute sich eines makellosen Rufs; die Rolle des unglücklichen Liebhabers spielte ihr eigener Mann. Ihr Spiel erhob sich nicht über das Gewöhnliche, aber das Publikum war befriedigt. Lydgate's einzige Erholung bestand jetzt darin, diese Frau spielen zu sehen.
An diesem Abend jedoch sollte die Aufführung noch ein ganz unerwartetes Interesse darbieten. In dem Augenblick, wo die Heldin ihren Geliebten zu erstechen und er mit Grazie zusammenzusinken hatte, erstach die Frau wirklich ihren Mann, der tot zu Boden stürzte. Ein wilder Schrei durchdrang das Haus und die Provençalin sank ohnmächtig nieder; beides, Schrei und Ohnmacht, waren in der Rolle vorgeschrieben, aber dieses Mal waren sowohl der Schrei als die Ohnmacht echt. Lydgate eilte herzu und gelangte, er wußte selbst kaum wie, kletternd auf die Bühne; er leistete der Ohnmächtigen, nachdem er gefunden hatte, daß sie eine Kontusion am Kopfe davon getragen, und sie sanft aufgehoben hatte, tätige Hilfe und kam auf diese Weise zum ersten Mal in persönliche Berührung mit seiner Heldin.
Ganz Paris war voll von dieser Geschichte – war es ein Mord? Einige der wärmsten Verehrer der Schauspielerin waren geneigt, an ihre Schuld zu glauben und schwärmten, im Geschmack jener Tage, in dieser Annahme nur desto mehr für sie; aber Lydgate gehörte nicht zu diesen. Er stritt heftig für ihre Unschuld, und die unpersönliche, aus der Entfernung schwärmende Leidenschaft für ihre Schönheit, welche ihn bisher für sie erfüllt, hatte sich jetzt in eine persönliche Hingebung, in eine zärtliche Teilnahme für ihr Los verwandelt. Der Gedanke an einen Mord war absurd; es war kein Motiv dafür erfindlich, da das junge Paar, wie es hieß, einander angebetet hatte, und es war nichts Unerhörtes, daß ein zufälliges Ausgleiten des Fußes zu so schrecklichen Folgen führte. Die gerichtliche Untersuchung endete mit Madame Laure's Freisprechung.
Lydgate hatte sie um diese Zeit näher kennen zu lernen Gelegenheit gehabt und fand sie von Tag zu Tag anbetungswürdiger. Sie sprach wenig, aber das war für ihn nur ein Reiz mehr. Sie war melancholisch und schien dankbar; ihre bloße Gegenwart wirkte beruhigend wie die Abenddämmerung. Lydgate dürstete wie wahnsinnig nach ihrer Liebe und zitterte bei dem Gedanken, daß ein anderer Mann ihre Neigung gewinnen und ihr seine Hand antragen könne. Aber statt sich an der Porte Saint Martin, wo sie in Folge des verhängnisvollen Ereignisses nur um so beliebter gewesen sein würde, wieder engagieren zu lassen, ging sie eines Tages plötzlich von dannen, ohne ihren kleinen Kreis von Bewunderern auch nur von ihrer Abreise zu benachrichtigen.
Vielleicht forschte ihr Niemand ernsthaft nach, außer Lydgate, dessen wissenschaftliche Interessen durch die Vorstellung völlig zurückgedrängt waren, daß die unglückliche Laure von nie rastendem Kummer verfolgt, umherwandere, ohne einen treuen tröstenden Freund zu finden. Indessen sind verborgene Schauspielerinnen nicht so schwer zu ermitteln wie andere verborgene Dinge, und es dauerte nicht lange, bis Lydgate in Erfahrung brachte, daß Laure den Weg nach Lyon eingeschlagen habe. Er fand sie endlich in Avignon, wo sie unter demselben Namen mit großem Erfolge auftrat und, als verlassenes Weib mit ihrem Kinde auf dem Arme, majestätischer denn je aussah.
Er sprach sie nach dem Schluss der Vorstellung, wurde von ihr mit der gewohnten Ruhe empfangen, welche auf ihn wirkte, wie die durchsichtige Tiefe einer klaren Flut, und erhielt die Erlaubnis, sie am nächsten Tage zu besuchen; er sehnte den Augenblick herbei, wo er ihr würde sagen können, daß er sie anbete, und war entschlossen, ihr seine Hand anzutragen. Er wußte sehr wohl, daß dieser Entschluss dem plötzlichen Impulse eines Wahnsinnigen gleiche und mit seinen sonstigen Neigungen durchaus nicht übereinstimme. Gleichviel! Er war entschlossen, es zu tun. Zwei Seelen wohnten offenbar in seiner Brust, und diese beiden Seelen mußten lernen sich in einander finden und gegenseitig ihre Schwächen tragen. Er gehörte zu den eigentümlich organisierten Menschen, welche die Fähigkeit besitzen, während sie in einem Augenblicke ganz von ihrer Leidenschaft in rasch wechselnden Visionen hingenommen sind, im nächsten die verderbliche Gewalt derselben klar zu erkennen, ja, während sie auf den Höhen umherrasen, doch mit klarem Blick in die Ebene hinabzuschauen, wo ihr besseres Selbst ruhig ihrer Rückkehr harrt.
»Sie haben die ganze Reise von Paris hergemacht, um mich zu suchen?« fragte sie am nächsten Tage, als sie mit verschränkten Armen vor ihm saß und ihn mit großen erstaunten Augen ansah. »Sind alle Engländer so?«
»Ich bin hergekommen, weil ich es nicht ertragen konnte, nicht wenigstens den Versuch gemacht zu haben, Sie zu sehen. Sie sind verlassen; ich liebe Sie; Sie müssen mein Weib werden; ich will warten, aber Sie müssen mir versprechen, mich und keinen Anderen zu heiraten.«
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