Auch Paul hat er von den Selektionen, den Brennöfen und den riesigen Wäsche-, Schmuck- und Menschenhaarbergen erzählt, die sich in einer großen Halle des Vernichtungslagers auftürmen.
Das Gespräch fand vor zwei Wochen statt. Da haben sie die Familie Weiß abgeholt, die viele Jahre in der Wohnung unter ihnen gewohnt hat. Pauline Weiß und er haben früher immer zusammen mit Axel, Maria und Liza gespielt. In den frühen Morgenstunden sind sie aufgeschreckt worden. Laute Stimmen und Weinen sind im Treppenhaus zu hören gewesen.
Seit diesem Tag wohnen Behms in der Wohnung, die vorher der Familie Weiß gehört hat. Die Behms sind Braune, sagt der Vater. Damit meint er die Nazis, die zu Anfang braune Hemden getragen haben. Heute kann man nicht mehr so einfach sehen, wer ein Nazi ist. Nicht alle tragen eine Uniform oder das Parteiabzeichen mit dem Hakenkreuz im Knopfloch.
„Iss doch, Paul“, schreckt des Vaters Stimme ihn aus seinen Gedanken auf. Die Suppe ist schon wieder kalt. Annemarie ist auf dem Sofa eingeschlafen. Der Vater sitzt am Tisch und blättert in der Woche . Ab und zu macht er sich auf dem Rand der Zeitung Notizen.
Paul denkt an Alina. An Pauline und ihre Eltern, an Maria Goldberg, an Liza Giesemann, in die er einst verliebt gewesen ist. Katja und Peter Lipowetzky haben auch Angst, dass sie abgeholt werden. Sie tragen beide den Stern.
Paul denkt an Herrn Wolf, der ihnen in der Schule von den schlechten Juden erzählt hat. Angeblich haben alle Juden Hakennasen, schwarzes, drahtiges Haar, stechende, schwarze Augen, sind untersetzt und klauen, was das Zeug hält. Doch die Juden, die Paul kennt, sind ganz anders.
Liza Giesemann hat braunes, wunderschön gelocktes Haar gehabt, dazu braune Mandelaugen und eine niedliche Stupsnase. Außerdem ist sie klein und zierlich gewesen und das niedlichste und netteste Mädchen, das Paul je getroffen hat.
Maria Goldberg hatte blonde Locken und blaue Augen. Sie war schlank und ein guter Kumpel. Sein Freund Axel hat sie sehr gern gehabt.
Frau Lipowetzky ist ebenfalls schlank, hat ein hübsches Gesicht, eine gerade Nase, blaugraue Augen, braunes Haar und sie ist die ehrlichste Frau, die Paul kennt. Ihr Mann ist sehr schmal und etwa mittelgroß. Sein graues Haar war früher hellbraun, seine grauen Augen sind hinter einer dicken Brille versteckt. Früher war er Goldschmied, bis die Nazis sein Geschäft schlossen. Auch er ist von Grund auf ehrlich.
Aber das ist jemandem wie Herrn Wolf vollkommen egal. Herr Wolf ist auch ein Brauner. Viele sind braun. Schulzes, Möllers, Behms und Herr Braun aus ihrem Haus, die meisten aus den anderen Häusern, aus Hamburg, aus Deutschland.
Natürlich gibt es die, die nicht an die Lügen der Nazis glauben: Sommers, Schmidts, Herrn Holz und Vaters Freund Heinrich Schön.
„Der rote Hein“ lebt versteckt. Er ist bei der Gestapo bekannt. Sie haben eine dicke Akte über ihn. Darin steht auch, dass er Matrose auf dem gleichen Schiff war wie der Vater. Bis jetzt hat Hein es jedoch immer geschafft, den Fängen der Gestapo zu entkommen.
Axels Vater, Bernhard Sommer, ebenfalls ein Freund des Vaters, war Sozialist. Auch er hat dem Führer und seinen Leuten nicht gepasst. Bei einer SPD-Versammlung, die von der Sturmabteilung der Nazis gewaltsam aufgelöst wurde, traf ihn eine Kugel. Noch am gleichen Tag starb er im Krankenhaus an der Wunde.
„So, da bin ich.“
Die Mutter steht in der Tür.
„Gut, dass du da bist, Grete“, sagt der Vater. „Hier, lies das mal.“
Er hält ihr die Zeitung hin. Mutter liest kopfschüttelnd.
„Die sind verrückt. Um diese Jahreszeit in Russland“, murmelt sie und meint das „Unternehmen Barbarossa“, wie der Russlandfeldzug in der Amtssprache genannt wird. Viele tausend deutsche Soldaten sind bereits erfroren. Doch der Führer gibt nicht den Rückzugsbefehl. Nein, er lässt weiter kämpfen. Immer mehr Männer sterben bei den polaren Temperaturen des russischen Winters. Deshalb sollen sie – so steht es überall angeschlagen – jetzt Winterkleidung sammeln. Damit die Soldaten nicht erfrieren.
Paul steht auf, um den gusseisernen Herd neu anzuheizen, damit auch die Mutter ihre Suppe warm essen kann. Doch die Mutter drückt ihn auf den Stuhl zurück. „Lass man. Ich hab eh keinen Hunger“, sagt sie und fährt ihm zärtlich durchs Haar.
Annemarie ist aufgewacht. Die Mutter setzt sich zu ihr aufs Sofa.
„Hast du Louise schon gefüttert?“ fragt sie den Vater. Der nickt und liest weiter in der Zeitung. Annemarie kuschelt sich an die Mutter, um weiter zu schlafen.
„Komm man, Annemi“, sagt die Mutter, nimmt sie auf den Arm und trägt sie ins Schlafzimmer.
„So“, sagt sie, als sie zurückkommt. „Die beiden Mädels schlafen. Na, und du?“
Sie steht neben Paul und sieht ihn an.
„Wie geht’s Alina?“ erkundigt sich Paul. Auch der Vater sieht jetzt die Mutter an.
„Sie hat sehr hohes Fieber“, sagt die Mutter leise. „Sie wird die Nacht wahrscheinlich nicht überleben.“
Betroffen sehen Paul und der Vater sich an. Die Mutter setzt sich an den Tisch und füllt sich jetzt doch etwas Suppe auf. Paul sieht ihr eine Weile zu. Dann steht er auf und stellt sich wieder ans Fenster.
Der Schnee ist liegen geblieben. Eine weiße Decke hat sich über den Hof gebreitet. Und es schneit immer noch. Paul kann die weißen Flocken nur erahnen in der Dunkelheit. Aber er sieht die feinen Kristalle, die sich am Küchenfenster gebildet haben und im Kerzenschein glänzen. Licht, richtiges elektrisches Licht dürfen sie nicht machen. Falls wieder Luftangriffe sind. Denn, wo Licht ist, da sind auch Menschen.
Ein Stuhl scharrt. Der Vater ist aufgestanden. Er geht zur Spüle und füllt sich einen Becher mit Wasser. Er trinkt drei Becher voll, bevor er sich wieder an den Tisch setzt und weiter in der Zeitung liest. Die Mutter nimmt den Topf mit dem Rest Suppe und stellt ihn in den Schrank. Dann beginnt sie, das Geschirr zu spülen.
Plötzlich horchen alle drei auf. Im Treppenhaus sind schwere Stiefeltritte zu hören. Die Mutter dreht den Wasserhahn zu, der Vater legt die Zeitung weg. Paul geht zur Mutter, stellt sich neben sie und wartet. Die Mutter tastet nach seiner Hand und hält sie fest. Der Vater steht bereits im Flur und lauscht nach draußen ins Treppenhaus.
Die Schritte poltern die Treppen herauf. Vor ihrer Tür verharren sie kurz, stapfen dann aber weiter. Oben wird an eine Tür geklopft. Dann können Paul und seine Eltern die erschrockene Stimme von Herrn Lipowetzky hören. Was er sagt, können sie jedoch nicht verstehen.
„Oh nein!“ flüstert die Mutter entsetzt. „Nicht Katja und Peter!“
Die Stimme von Frau Lipowetzky ist zu hören. Sie fleht und bittet. Doch die harten Männerstimmen schneiden ihr das Wort ab.
Paul und seine Eltern stehen hinter der Wohnungstür und horchen. Die Schritte kommen die Treppe wieder herab. Doch diesmal sind leise, klickende Schritte und leicht schlurfende heraus zu hören. Katjas Absatzschuhe machen dieses typische, klickende Geräusch, Peter schlurft. Die Schritte kommen an ihrer Tür vorbei und steigen weiter hinunter. Der Vater will die Tür öffnen und hinterher, aber die Mutter hält ihn fest.
„Nicht Max!“ fleht sie. „Sollen sie dich auch gleich noch mitnehmen?“
Der Vater lässt seufzend die Hand sinken, die schon auf der Türklinke lag. „Du hast ja recht, Grete“, sagt er leise. „Wir können nichts mehr für sie tun.“
Die Mutter nimmt Pauls Hand und zieht auch ihn von der Tür weg.
„Du musst jetzt schlafen“, sagt sie.
Etwas widerwillig lässt Paul sich ins Schlafzimmer bringen und ins Bett stecken. Es ist noch nicht allzu spät. Kurz nach zehn Uhr vielleicht. Morgen kann er ausschlafen. Morgen hat er keine Schule. Die Schulen sind wegen der Luftangriffe geschlossen worden. Außerdem sind viele Lehrer eingezogen worden. Herr Wolfs Bruder, der auch Lehrer war, ist als Leutnant in Russland gefallen.
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