»Das weiß ich noch nicht. Ich habe mich nach den Umständen zu richten, welche ich vorfinde. Wie aber steht es mit
der Verwundung des Chinesen?«
»Sie ist nur leicht. Ich sah wohl Blut, doch aber nicht viel. Sein Vater verband ihn eben, als ich ging, mit seinem
Taschentuche.«
»So habe ich von ihm keine Störung zu befürchten. Jetzt wird es Zeit, daß wir uns trennen. Mach deine Sache gut!«
»Von dem Augenblicke an, wo er bei mir ist, wird ihm nichts geschehen, darauf kannst du dich verlassen, Sihdi. Du
hast von mir verlangt, ein guter Mensch zu sein, und nun macht es mir Freude, ihm seine Beleidigung durch Liebe zu
vergelten!«
Nach diesen Worten ritt er in der ihm von mir angegebenen Richtung davon; ich aber nahm meinen Weg zwischen der
großen und den ihr gegenüberliegenden kleinen Pyramiden hindurch, welche für Angehörige des Cheops bestimmt
gewesen sein sollen. Hinter der letzten von ihnen teilt sich der Weg. Links führt er nach der Sphinx hinab, fast geradeaus
nach Campbells Grab hinüber. Ich zog es vor, nach diesem Grabe zu reiten, denn ich hatte von dort aus einen besseren
Ueberblick, und ich konnte mir den Anschein geben, als ob ich von dem Vorgefallenen gar nichts wisse und nicht etwa
vom Hotel her, sondern von der zweiten oder gar dritten Pyramide komme. Ich wich also nach Westen zu von den durch
den Sand führenden Stapfen ab und hielt mich so lange in den Einsenkungen des Terrains, bis ich die unterhalb der
Chefren-Pyramide liegenden Tempelreste vor mir hatte. Hierauf wendete ich mich nach links, trieb das Pferd eine steile
Schuttböschung hinauf und sah den Ort, den ich erreichen wollte, in nicht allzu großer Entfernung vor mir liegen.
Es genügte ein Blick, die Szene zu erfassen. Die für die Dschemma Ausgewählten saßen an der Erde, einige Schritte
davon Mary und die Chinesen. Der Amerikaner stand und neben ihm der Dolmetscher, welcher mit den Händen
gestikulierte, also zu sprechen schien. Hören konnte ich es nicht. Die Stelle, an welcher ich mich befand, lag höher als
diejenige, an welcher die Beduinen ihre Beratung hielten. Die Zuhörer hatten die Dschemma nicht ganz eingeschlossen,
sondern sie bildeten, was mir außerordentlich lieb war, des abfallenden Terrains wegen nur einen Halbkreis, welcher
nach mir zu offen stand; das machte es mir möglich, sofort ganz an die Beratenden heranzutreten.
Man wurde auf mich aufmerksam. Als ich näher kam, hörte ich den verwunderten Ruf: »Ein Reiter ohne Sattel!«
Diejenigen, welche von mir abgewendet saßen, drehten sich nach mir um. Man zeigte Neugierde, doch fiel es Keinem
ein, seinen Platz zu verlassen.
Die Angelegenheit stand genau so, wie ich vermutet hatte, denn den Scheich el Beled von el Kafr ausgenommen,
hatten alle Beisitzer der Dschemma ihre Messer vor sich bis an die Hefte in die Erde gesteckt, ein für den Kenner
sicheres Zeichen, daß es sich um das Leben des Angeschuldigten handelte. Ich tat, als ob er mir sehr gleichgültig sei, ritt
aber fast bis ganz zu ihm heran, sprang ab, legte die Hände, doch nur für einen kurzen Augenblick, um nicht als
gewöhnlicher Mann zu gelten, auf die Brust und grüßte die am Boden sitzenden Personen.
Es war leicht zu erraten, welcher von ihnen der fremde Schech war, denn er hatte das Hama#ïl, um welches es sich
handelte, vor sich liegen. Sein Anzug befand sich, wie auch diejenigen aller seiner Leute, in einem Zustand, den Omar
sehr richtig als »schmutzig und zerrissen« bezeichnet hatte, doch war seinem ernsten, sonnenverbrannten Gesichte die
Gewohnheit des Befehlens deutlich aufgeprägt. Er nickte stolz mit dem Kopf und ließ nur ein kurzes »Sallam!« als Antwort
hören. Wenn ich mir diesen Mangel an Höflichkeit gefallen ließ, so hatte ich von vornherein verspielt. Er mußte mich für
einen Mann halten, der sich das nicht bieten zu lassen brauchte, darum sagte ich in strengem Tone:
»Du bleibst sitzen, indem du mit mir sprichst, und siehst doch, daß ich stehe? Ich vermute, daß ihr in Mekka gewesen
seid, über welchem das Andenken des Propheten glänzt. Hast du etwa dort deine Höflichkeit im Sand von Chandamah
vergraben?«
»Wo liegt Chandamah?« fragte er schnell und erstaunt.
»Geh zwischen dem Suq el Lel und dem Schib el Maulid, wo das Geburtshaus des Propheten steht, vor die Stadt
hinaus, so siehst du es zur linken Seite des Dschebel Qubehs liegen.«
Da stand er auf, und alle Andern mit ihm, kreuzte die Hände auf der Brust, verbeugte sich tief und sagte:
»Verzeih! Ich wußte nicht, daß du ein Kenner der Heiligtümer bist. Du wirst mir erlauben, deinen Namen zu erfahren!«
»Allerdings, doch nicht eher, als bis ich dich nach dem deinigen gefragt habe. Vorher aber will ich das Wichtigere
wissen. Sind wir bei den Pyramiden von Gizeh, oder befinden wir uns im Wadi Fatimeh, wo das Gesetz der Wüste gilt?
Ich sehe eine Dschemma versammelt und Messer in der Erde stecken. Wer hat hier zu richten, und wer soll gerichtet
werden?«
Ich sah ihm so scharf und fest ins Auge, daß mir sein Blick nicht ausweichen konnte. Die Erwähnung von
Oertlichkeiten, welche nur dem Kenner von Mekka geläufig sind, tat das Ihrige. Er antwortete in nicht ganz sicherem Tone:
»Es ist eine Beleidigung geschehen, welche nur mit Blut gesühnt werden kann. Ich will es dir erzählen.«
Nichts konnte mir willkommener sein als diese seine Bereitwilligkeit, denn sie sagte mir, daß ich ihm imponiert hatte.
Er berichtete mir, natürlich in seiner mohammedanisch gefärbten Weise, was geschehen war. Als er geendet hatte, sagte
ich:
»Der Kuran ist dir jedenfalls bekannt. Nach ihm und der Sunna muß Recht gesprochen werden. Aber weißt du auch,
was Khalil Ibn Ishak, der berühmte Erklärer derselben, über die Pflichten der Dschemma sagt?«
»Nein; das weiß ich nicht,« sah er sich gezwungen, einzugestehen.
»Nicht? Aber ihr habt bedacht, daß dieser Fremde die Heiligkeit des Hama#ïl nicht kennt und dich vielleicht gar nicht
hat beleidigen wollen? Habt ihr ihm erlaubt, sich zu verteidigen?«
»Er hat es durch den Mund seines Dragoman (* Dolmetscher.) getan.«
»Ist dieser Dragoman gerecht und vorsichtig gewesen? Ich werde das sogleich erfahren.«
Der Dolmetscher stand höchst verlegen da. Er hörte mich arabisch sprechen und wußte nun also, daß ich Alles
verstanden hatte, was auf dem Dschebel Mokattan von ihm über mich geäußert worden war. Ob er mich wohl auch jetzt
noch für einen Franzosen hielt?
»Imschi, ia Budala- Pack dich, Dummkopf!« fuhr ich ihn an, denn ich wollte ihn nicht hören lassen, was ich dem
Amerikaner zu sagen hatte.
Er zog sich erschrocken bis unter die Zuschauer zurück, und nun wendete ich mich an Waller, und zwar in deutscher
Sprache:
»Sagen Sie schnell: Können Sie reiten?«
»Ja,« antwortete er, indem er mich verwundert ansah.
»Galopp und ohne Sattel, so daß Sie ja nicht etwa herabfallen?«
»Ich sitze fest. Sie reden deutsch? Good lack! Warum fragen Sie?«
»Es handelt sich um Ihr Leben. Die Situation ist ernster, als Sie meinen, und nur die Flucht kann Sie retten. Wenn Sie
das vielleicht bezweifeln, so fehlt mir die Zeit, es Ihnen zu erklären.«
»Ich glaube es,« versicherte er. »Das sind ja ganz desparate Menschen hier!«
»So passen Sie auf, was ich Ihnen sage! Ich werde jetzt zu diesen Leuten weitersprechen. Sobald Sie sehen, daß ihre
Aufmerksamkeit ganz auf mich gerichtet ist, springen Sie auf mein Pferd und reiten so schnell, wie Sie können, fort - - -«
»Man wird mich verfolgen,« fiel er ein.
»Allerdings; aber die paar Esel und Kamele, welche hier stehen, haben Sie nicht zu fürchten. Da oben steht die zweite
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