»Sind die Beisitzer dieser Dschemma bereits gewählt?«
»Nein. Es werden lauter Fremde sein, und von den Hiesigen darf nur der Schech el Beled beitreten. Dieser hat einen
seiner Leute heimlich nach Kairo um Hilfe geschickt. Bis diese kommt, will er versuchen, die Verhandlung
hinauszuziehen; aber ich glaube nicht, daß ihm dies gelingen wird.«
»Ich auch nicht. Die Fremden scheinen den Fall nach dem Gesetz der Wüste behandeln und von der hiesigen Polizei
nichts wissen zu wollen. Ja, es kann zwischen dieser und ihnen sehr leicht zum Kampfe und Blutvergießen kommen!«
»Daran dachte ich auch, und darum bin ich zu dir geeilt, um dich zu holen. Du wirst diese Sache auf gutem Wege zu
enden wissen!«
»Ich? Wie kommst du zu dieser Idee?«
»Ich habe dir ja schon gesagt, daß mir der alte Ibrahim Effendi mehr von dir erzählt hat, als du denkst. Ich bitte dich um
Hilfe. Wirst du sie den Chinesen verweigern?«
»Du sprichst nur von ihnen, obgleich ihnen direkt keine Gefahr droht. Für den Amerikaner bittest du nicht?«
»Nein! Er mag bekommen[,] was er verdient hat! Ich habe ihn auf dem Mokattam verschont; hier aber darf er keine
Schonung finden!«
Da legte ich ihm die Hand auf die Schulter, sah ihm ernst in die Augen und sagte langsam, indem ich jedes Wort
betonte:
»Du bist Sejjid Omar, aber du bist kein guter Mensch! Und wer kein guter Mensch ist, der kann auch kein guter
Anhänger des Propheten sein! Ich wollte dich jetzt mitnehmen, weil du mir helfen solltest, dem Amerikaner beizustehen.
Du kannst aber hierbleiben!«
Ich tat, als ob ich gehen wolle; da rief er aus:
»Sihdi, nimm mich mit! Ich will dir beweisen, daß die Güte eines Moslem größer sein kann als sein Wunsch nach
Rache. Brauchen wir Waffen?«
»Nein, sondern nur Klugheit und Entschlossenheit. Unsere Pferde sind nicht mehr gesattelt?«
»Nein. Reiten wir denn?«
»Ja, doch haben wir keine Zeit, vorher zu satteln. Ich kenne die Gesetze der Wüste sehr genau. Diese fremden
Beduinen werden sich von dem Schech el Beled nichts vormachen lassen. Sie sind auf den Zusammentritt der
Dschemma bloß deshalb eingegangen, weil sie derartige Szenen lieben; das Urteil aber wird auf den Tod des
Amerikaners lauten, und sie werden es ausführen, ohne sich um die Meinung irgend eines anderen Menschen, sei es
auch der Khedive von Aegypten, zu bekümmern. Wo wird diese Versammlung abgehalten?«
»Ein wenig oberhalb der Sphinx.«
»So wird der Missionar diese Stelle nicht lebend verlassen, wenn wir ihn nicht herausholen. Da er zu Fuß nicht
entkommen kann, sondern von ihnen eingeholt würde, reiten wir. Merke dir diese Tür, welche hinaus in das Freie führt!
Sie ist von Wichtigkeit. Ich lasse sie um eine Lücke offen, und der Schlüssel bleibt von innen stecken.«
»Warum, Sihdi?«
»Das erfährst du unterwegs. Jetzt komm!«
Ich muß bemerken, daß wir sehr schnell sprachen und daß diese Unterredung also nicht halb so lange währte, als
wenn man sie vom Papiere liest. Ein Hama#ïl ist ein in der Stadt Mekka geschriebener und unter gewissen
Feierlichkeiten erworbener Kuran, der nur an solche Pilger verkauft wird, welche nachweislich allen Verpflichtungen
getreulich nachgekommen sind. Es gilt als das köstlichste Andenken an die Pilgerschaft, wird für heilig gehalten und darf
nie mit irgend Etwas in Berührung kommen, was dieser Heiligkeit nicht angemessen ist. Mr. Waller hatte nach den
Begriffen derer, in deren Händen er sich befand, unbedingt ein todeswürdiges Verbrechen begangen. Wenn man hierzu
die unter diesen Leuten gewöhnliche Christenverachtung und die durch die Pilgerfahrt bis zur Brutalität gesteigerte
religiöse Aufregung rechnet, so kann man sich die Gefahr wohl denken, in welcher der Genannte gegenwärtig schwebte.
Eine Dschemma über einen Christen, nebst dem an ihm vollstreckten Todesurteil, ein besserer Schluß konnte nach
Ansicht dieser Fanatiker ihrer Reise nach Mekka ja gar nicht gegeben werden!
Wir eilten nach dem Stall hinüber, zogen die Pferde heraus, stiegen auf und ritten den Hohlweg nach den Pyramiden
hinauf. Ich hielt es nicht für geraten, im Hotel zu sagen, warum wir diesen Ritt unternahmen. Je weniger Aufsehen erregt
wurde, desto größer war für mich die Hoffnung des Gelingens.
Als wir oben bei der Cheops-Pyramide ankamen, war dort kein Mensch zu sehen, denn Jedermann war nach der
Sphinx geeilt, um bei der Dschemma anwesend zu sein. Das war mir lieb, weil ich nun, ohne gesehen zu werden und
Verdacht zu erregen, Omar unterweisen konnte, was er zu tun hatte.
»Hier trennen wir uns,« sagte ich. »Wenn der Amerikaner reiten kann, ist er zu retten, sonst wahrscheinlich nicht. Ich
reite hier links an den kleinen Pyramiden nach der Sphinx hinunter, dränge mich an die Dschemma heran und suche, mit
dem Pferd möglichst nahe an den Amerikaner heranzukommen. Dann steige ich ab und spreche mit den Beduinen.«
»Aber du wagst dein Leben!« fiel Omar ein.
»Nein. Da ich heut nicht den Hut, sondern den Tarbusch trage, wird man mich für einen Effendi halten, und ich werde
nichts sagen, wodurch ich mich als Christ bezeichne. Während ich die Aufmerksamkeit der Dschemma ganz auf mich
ziehe, steigt er schnell auf das Pferd und reitet fort.«
»Sie werden ihm nachreiten!«
»Ich meine, daß sich keine anderen Tiere dort befinden werden, als die kleinen Esel und die langsamen Kamele der
Leute von el Kafr?«
»Das ist richtig!«
»Man kann ihn also nicht einholen, aber man wird auf den klugen Gedanken kommen, ihn nicht nach dem Hotel
zurückzulassen. Man wird also diesen Hohlweg hier besetzen und ihm die Annäherung auch von den anderen Seiten
unmöglich machen. Aber an die Tür zu meinem Zimmer wird Niemand denken.«
»Maschallah! Ich beginne, zu begreifen, Sihdi. Ich soll ihn nach dieser Tür bringen?«
»Ja.«
»Aber wo und wie treffe ich ihn?«
»Du reitest hier an der großen Pyramide entlang, genau nach West, halb über das hinter ihr liegende Totenfeld, und
wendest dich dann links nach der Pyramide des Chefren hinüber, an deren Südwestecke du wartest, bis der Amerikaner
kommt.«
»Wird er wissen, daß ich dort bin?«
»Ja; ich sage es ihm. Wenn er zu dir gestoßen ist, reitet ihr zurück, quer über das Totenfeld, aber ja nicht her zur
großen Pyramide, sondern stets nach Nord, von der Höhe nach der Niederung herab, bis ihr in gleicher Linie mit dem
Hotel seid. Es gibt dort keinen Weg; der Sand ist tief; man wird den Flüchtling dort gewißlich nicht vermuten. Dennoch
sage ich, daß ihr Begegnungen möglichst zu vermeiden habt, bis das Hotel zu sehen ist. Dann reitet ihr, ganz gleich, ob
ihr gesehen werdet oder nicht, schnell auf dasselbe zu, biegt aber ja nach keinem Wege ein, sondern eilt oben auf der
Düne bis hin an meine Zimmertür, welche ich offen gelassen habe. Seid ihr drin und habt den Schlüssel umgedreht, so ist
nichts mehr zu befürchten. Die Pferde müssen freilich draußen stehen bleiben. Ich hoffe übrigens, daß ich dort bin, wenn
ihr kommt. Beeilt euch aber, denn es wird bald dunkel werden!«
»Und was geschieht mit der Tochter des Amerikaners und mit den Chinesen, Sihdi?«
»Das laß meine Sorge sein! Ich rechne auf die ganz gewiß entstehende Aufregung und Verwirrung, welche ich
möglichst gut benutzen werde.«
»Aber du selbst, Sihdi! Du begiebst dich wirklich in Gefahr!«
»Das hat nur den Anschein so. Ich werde die Fremden durch eine so große Dreistigkeit verblüffen, daß sie gar nicht
daran denken, etwas gegen mich zu tun.«
»Was wirst du zu ihnen sagen?«
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