»Sihdi, es wird über sie Gericht gehalten. Du mußt sofort kommen und ihren Fakih (* Advokat, Verteidiger.) machen!«
»Von wem redest du?« fragte ich.
»Von den Chinesen. Sie sind gute Menschen und wohnen in demselben Hotel mit dir. Ich hoffe, daß dies genug
Gründe für dich sind, ihnen beizustehen!«
»Ich bin kein Fakih. Wer klagt sie an? Was haben sie getan?«
»Sie haben den Amerikaner in Schutz genommen, dem es wahrscheinlich an das Leben gehen wird. Das geschieht
ihm recht! Du hast es ja gesehen, wie er mein Gebet unterbrochen hat!«
»Weshalb soll es ihm an das Leben gehen?«
»Das erzähle ich dir unterwegs; komm nur schnell, sonst wird es vielleicht zu spät, dich der Chinesen anzunehmen!«
Er faßte mich am Arm, um mich mit sich fortzuziehen. Ich wehrte ihn ab und sagte:
»Beherrsche dich! Man kann durch zögerndes Ueberlegen weiter kommen als durch übermäßige Eile. Erzähle, wenn
auch kurz, aber Alles, was geschehen ist.«
Er versuchte, seinen fliegenden Atem zu beruhigen, und folgte meiner Aufforderung:
»Als ich die Pferde in den Stall geschafft und ihnen Futter gegeben hatte, ging ich hinauf nach den Pyramiden. Ich
wollte die fremden Mekkapilger sehen, vor denen ich mich nicht zu scheuen brauche, weil ich weder Christ noch Jude,
sondern nicht nur Moslem, sondern sogar Sejjid Omar bin. Ihre Gewänder sind zwar während der weiten Reisen zerrissen
und sehr, sehr schmutzig geworden, aber das hindert nicht, daß diese Beduinen vom Bahr bela Ma sehr fromme Männer
sind, welche Mekka gesehen haben und viel von ihm erzählen können. Als ich kam, waren sie dabei, die große Pyramide
zu besteigen. Da aber auf der Höhe derselben nur gegen dreißig Personen stehen können, mußte dies in Abteilungen
geschehen. Es dauerte sehr lange, ehe die erste wieder herunterkam. Mit dieser ging ich nach der Sphinx hinunter, denn
sie sollte auch bestiegen werden. Du weißt, daß man da am Granittempel vorüberkommt. Indem wir dies taten, hörte ich
Stimmen in dem Treppengang desselben, achtete ihrer aber nicht. Hätte ich gewußt, wer es war, so wäre ich
hineingegangen, um sie zu warnen.«
»Wer war es denn?« unterbrach ich ihn.
»Die beiden Chinesen, der Amerikaner und seine Tochter. Wir stiegen alle auf den Rücken des Sphinx, von wo aus
einige der jungen Leute von el Kafr gegen ein Bakschisch auch noch auf den Kopf zu klettern pflegen, was so gefährlich
ist, daß ich nicht versuchen möchte, es nachzumachen. Einer von ihnen führte dieses Kunststück aus, und der Schech der
fremden Pilger behauptete, es ihm nachmachen zu können. Man glaubte es ihm nicht; es wurde hin und her gestritten und
ihm schließlich eine Wette angeboten, auf welche er einging. Er zog seinen Mantel aus und nahm auch sein Hama#ïl vom
Halse, weil es während des Kletterns leicht beschädigt werden konnte. Die Schnur, an welcher es hing, war zu eng, sie
über den Kopf zu bringen. Er zog zu sehr; sie zerriß, und da er sie nicht festhielt, flog das Hama#ïl seitwärts auf den
Boden nieder, wo sich der Fels nach unten rundet. Es glitt weiter und fiel in die Tiefe hinab.«
»Das hat nichts zu sagen. Die Hama#ïls werden in Futteralen getragen, und unten gibt es lockeren Sand; das Buch
wird also nicht beschädigt worden sein.«
»Das ist richtig; aber höre, was gleich weiter geschah! Der Schech kümmerte sich jetzt nicht um sein Hama#ïl,
welches er sich dann ja holen konnte; er dachte nur an seine Wette. Es war ausgemacht worden, daß noch einmal
Jemand von el Kafr hinaufzuklettern habe, damit der Fremde sich die Stellen merken könne, wo die Finger und die Zehen
einzusetzen sind. Diese Bedingung wurde auch erfüllt. Es gab also bis zum Austrag der Wette ein zweimaliges Hinaufund
wieder Herunterklettern. Das dauerte natürlich lange, weil jede Bewegung äußerst vorsichtig unternommen werden
mußte, und während dieser Zeit geschah unten Etwas, was wir nicht beachteten, weil unsere ganze Aufmerksamkeit nach
oben gerichtet war.«
»Ah, ich errate! Der Amerikaner und das Hama#ïl!«
»Ja, so ist es, Sihdi! Die vier Personen hatten den Granittempel verlassen und waren dann auch nach der Sphinx
gegangen, obgleich sie sahen, daß deren Körper von Beduinen geradezu wimmelte. Doch hatte dieser Umstand sie
wenigstens abgehalten, sie auch zu besteigen; sie waren vielmehr den schmalen Pfad, welcher von ihrem westlichen
Teile nach dem östlichen führt, hinabgegangen und hatten dort bei dem Vorderfuße das Hama#ïl liegen sehen. Anstatt es
nun gar nicht anzurühren, weil sie doch keine Muhammedaner waren, und sich auch gewiß denken konnten, daß es einem
oben auf der Sphinx befindlichen Pilger gehören werde, hatten sie es sogar aus dem Futterale gezogen, geöffnet und
durchblättert. Inzwischen hatte der fremde Schech, der ein sehr kühner Kletterer ist, seine Wette gewonnen, und wir
stiegen von der Sphinxherunter [Sphinx herunter], was, wie du weißt, an ihrem Hinterkörper geschieht. Dort trafen wir mit
dem wieder nach hier gekommenen Amerikaner zusammen. Als der Schech sein Hama#ïl in den Händen dieses Mannes
sah, war er zunächst so erschrocken, daß er kaum sprechen konnte; bald aber verwandelte sich der Schreck in Zorn. Er
riß es ihm aus der Hand und fragte, ob er im Menahouse wohne, wo man Wurst und Schinken esse. Als der Gefragte mit
einem Ja antwortete, mußte die Heiligkeit des Hama#ïl für vernichtet gelten. Du kannst dir nun die Wut des Schechs
denken, welcher den Amerikaner am liebsten vernichtet hätte. Dieser war aber nicht etwa so klug, zu schweigen, sondern
er verteidigte sich und nannte das Hama#ïl ein Lügenbuch.«
»Er kann aber doch nicht arabisch sprechen!«
»Der Dolmetscher war bei ihm, den du auf dem Dschebel Mokkatam mit ihm und mir gesehen hast. Er ist vom Hotel
weg zu ihm gefahren, um ihn abzuholen und mitzunehmen.«
»Und dieser Mensch war so unvorsichtig, das Wort Lügenbuch zu übersetzen, ohne ein anderes, weniger
beleidigendes an seine Stelle zu nehmen?«
»O, er hat noch ganz Anderes übersetzt! Ich kann dir nicht Alles so ausführlich erzählen, wie es geschehen ist, denn
ich habe schon jetzt zu viel Zeit versäumt und will dir nur noch sagen, daß der Amerikaner es in seinem Zorne gewagt hat,
dem Schech das Hama#ïl wieder zu entreißen und unter schlimmen Ausdrücken, welche auch übersetzt worden sind, ihm
vor die Füße zu werfen.«
»Unmöglich!«
»Es ist wahr. Ich stand dabei und habe es selbst auch gesehen. Der Schech riß das Messer heraus, um ihn zu
erstechen; die Tochter wollte sich dazwischen werfen; der junge Chinese riß sie zurück und hat den Stich in den Arm
bekommen. Der fremde Scheich wollte wieder stechen, und seine Leute griffen auch nach ihren Messern. Es wären
wenigstens drei Menschenleben zu Grunde gegangen, wenn nicht der Scheich el Beled (* Dorfschulze.) von el Kafr
eingeschritten wäre. Diesem ist von der Regierung die Aufsicht über das Gebiet der Pyramiden übertragen worden, und
er mußte sich sagen, daß die Ermordung von Christen, die überdies noch Ausländer sind, für ihn und die Bewohner
seines Dorfes von sehr schlimmen Folgen sein werde. Aber es kostete ihm sehr viel Ueberredung, bis die Fremden ihre
Messer wieder einsteckten, doch verlangten sie Sühne, und zwar blutige Sühne, weil eine solche Behandlung eines
Hama#ïl ein größeres Verbrechen ist, als selbst ein zehnfacher Mord sein würde. Diese Sühne soll auch sofort und ohne
Zeitverlust gegeben werden, und darum drangen sie auf das Zusammentreten einer Dschemma (**
Gerichtsversammlung.) , welche den Fall ohne Zögern zu besprechen und das Urteil zu fällen habe.«
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