Durch die große Fensterfront strahlte die Sonne sie an. Entzückt beobachtete sie zwei Eichhörnchen, die direkt vor der Scheibe spielten, ohne sich von ihr stören zu lassen. Gebannt verfolgte sie die Idylle, die Hände kraulend in Docs drahtigem Fell versenkt. Vom gestrigen Regen waren lediglich kleine Pfützen übrig geblieben, die Sonne hatte den Rest bereits getrocknet.
Wenn sie den Kopf ein bisschen nach vorne reckte, konnte sie einen Blick auf blauen Himmel erhaschen, an dem weiße Schäfchenwolken prangten. Ein winziges Glücksgefühl machte sich in ihr breit. Sie hatte es tatsächlich getan. Hatte das, was sie sich seit Jahren vorgenommen hatte, umgesetzt. Ihr ganzes Leben lang hatte sie immer auf alles und jeden Rücksicht genommen. Sie selbst war dabei etliche Male fast untergegangen, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Barfuß tapste sie an das Fenster, zog mit einem Ruck das letzte Stück der Vorhänge auf. Geblendet vom Licht und der Schönheit, die sich ihr bot, verharrte sie an Ort und Stelle.
»Zauberhaft«, seufzte sie begeistert. Sie war tatsächlich in der romantischen Heimat ihres Romanhelden gelandet.
»Danke, Frau Gabaldon!«, murmelte Lou glückselig.
Der gestrige Sturm hatte sich gelegt. Die hohen Kiefern und Tannen in ihrem Garten wiegten ihre Wipfel zum imaginären Takt eines lauen Lüftchens. Staubpartikel tanzten in den Sonnenstrahlen, Vögel zwitscherten. Genauso hatte sie es sich erhofft, jedoch nach dem gestrigen Abend einen Schlammpfuhl im Garten erwartet. Erleichtert stellte sie fest, dass der Rasen mit den vielen bunten Blüten nicht unter dem sintflutartigen Regen gelitten hatte. Obwohl der Herbst bereits weit fortgeschritten war, erinnerte die Pracht ihres Gartens fast an den Frühling. Sie bildete sich gar ein, den Duft dieses Blütenmeeres zu riechen.
»Na dann sehen wir uns mal an, wo wir gelandet sind, Miss Robinson«, sagte sie zu sich selbst und zwinkerte Doc zu, der ihr mit Begeisterung folgte. Der Boden unter ihren nackten Füßen war kalt, knarrte und ächzte bei jedem ihrer Schritte. Bei Tageslicht versprühten die Möbel des kleinen Wohnzimmers gemütliches Landhausflair. Die Couch war mit einem abgewetzten Cordstoff überzogen, Gleiches traf auf den altertümlich wirkenden Ohrensessel zu. Verblichene Blümchenkissen, deren Muster sich in der Patchworkdecke wiederholten, unter der sie geschlafen hatte, sorgten für ein bisschen Farbe. Alles war sauber, verströmte einen leichten Weichspülergeruch. Das Mobiliar bestand aus wenigen alten Holzmöbeln, die teilweise sicherlich von Generation zu Generation weitervererbt worden waren. Zumindest sahen sie alt aus, mit ihren gedrechselten Holzelementen sogar fast antik. Bunte, wie es aussah, handgewebte Läufer bedeckten das Holzparkett, welches sein Alter nicht verleugnen konnte. Das Wohnzimmer ging nahtlos in den Essbereich über, in dem ein massiver Tisch mit einer Eckbank sowie zwei Stühlen zum Essen einlud. Wehmütig strich Lou über das Holz, das sich unter ihrer Hand weich und warm anfühlte. Kratzer und etliche Macken erzählten vom regelmäßigen Gebrauch. Sie würde hier vermutlich wenig Zeit verbringen, da ihre Kochkünste so gut wie nicht vorhanden waren. Ein frischer Strauß aus Rosen nahm die Mitte des Tisches ein, verströmte einen lieblichen Duft.
»Ah, daher der Blumenduft«, überlegte sie laut, den betörenden Duft in der Nase. Mitte Herbst und es gibt sogar noch Rosen, frohlockte sie. Die Küche schloss direkt an. Diese war so klein, dass Lou nicht einmal hätte umfallen können, ohne sich den Hals zu brechen. Wenn sie sich in die Mitte stellte, konnte sie bequem gleichzeitig alle Schubladen sowie Schränke erreichen. Das einzig Große in diesem Raum war der übertriebene Kühlschrank im amerikanischen Stil mit Eiswürfelzubereiter. Und leider, wie sich herausstellte, das einzig moderne Gerät, mit dem diese Küche aufwarten konnte. Weder Mikrowelle noch Wasserkocher, geschweige denn eine Spülmaschine waren vorhanden.
»Mist!«, brummte Lou ärgerlich, während sie Tür um Tür aufriss, in der Hoffnung, doch noch auf eine Mikrowelle zu stoßen. Vergeblich. Beim Gedanken an zwei Monate mit ihren schrecklichen Kochkünsten knurrte ihr Magen bereits jetzt vor Hunger. Am Kühlschrank hing ein Zettel mit einer Telefonnummer, die mit A. Munro sowie doppelten Ausrufezeichen versehen war. Außerdem waren da eine Notiz mit der Adresse des ortsansässigen Einkaufsladens und dessen Öffnungszeiten sowie eine kleine Straßenkarte mit den einzigen beiden Straßen, die der Ort besaß. Ein leicht zerfledderter Flyer mit einem Kleinbus und dessen Ausflugszielen komplettierte die Zettelsammlung. Ein Blick in den Kühlschrank offenbarten Lou Eier, Speck, landestypische Würstchen, Toast und eine Vielzahl verschiedenster Gläschen mit Marmelade, aber auch eingelegtem Essiggemüse. Kurze Zeit später machte sie sich mit großem Appetit über verkohlten Toast sowie Eier mit Speck her, die ziemlich verbrannt waren. Deshalb spülte sie das Ganze auch mit einer Unmenge an Tee nach. Frisch gestärkt blieben ihre Augen an ihren verstümmelten, verbrannten Fingernägeln hängen, die ohne die künstlichen Nägel erst wieder gerade und ohne Gel sowie Kleber nachwachsen mussten.
»Nie mehr künstliche Fingernägel. Nie mehr blondierte Haare«, murmelte sie fest entschlossen vor sich hin. Motiviert fing sie an, ihr Gepäck auszupacken. Bequeme Hosen und schlabberige Sweatshirts füllten den nach Zeder duftenden Eichenschrank, der die einzige gerade Wand des Schlafzimmers im Dachgeschoss komplett einnahm, nicht einmal zu einem Viertel. Ihr Schmusekissen, auf dem ihre Kinder verewigt waren, landete inmitten eines weichen Bettdeckenberges aus gestärktem jungfräulich weißem Leinen. Dieser befand sich im größten Bett, das sie je gesehen hatte. Mit großen Augen fragte sie sich, wie um alles in der Welt dieses Monsterbett die kleine Treppe oder die enge Tür, an der sie sich den Kopf gestoßen hatte, passiert haben konnte.
»Nur in Einzelteilen«, sinnierte sie laut, schüttelte dann immer wieder ungläubig den Kopf, während sie das Bett umrundete, das fast den ganzen Raum einnahm. Es war aus dunklem Holz, mit Ornamenten ebenso wie mit geschnitzten schottischen Disteln verziert. Handarbeit, die heutzutage sicherlich unbezahlbar war. Zögerlich tastete sie mit der Hand nach der Sprungkraft der Matratze. Plötzlich legte sich ein Schmunzeln auf ihr Gesicht. Misstrauisch beobachtete von Doc, konnte sie plötzlich dem kindischen Trieb nicht widerstehen, nahm Anlauf und sprang mitten in den weichen Berg hinein. Augenblicklich versank Lou und mit ihr Doc, der es sich nicht hatte nehmen lassen, seinem Frauchen zu folgen. Berge von Decken und unzählige Zierkissen begruben sie beide unter sich, als die weiche Matratze sie beide in den Mittelpunkt des Bettes rollen ließ.
»Himmel hilf … ich werde durchhängen. Wie soll ich denn hier je schlafen können«, stöhnte Lou. Mühevoll kämpfte sie sich aus dem Bett zurück auf die Beine.
Beschwingt begab sie sich im Anschluss wieder nach unten. All ihre Toilettenartikel schaffte sie in das winzige Badezimmer mit den schrägen Wänden, welches überraschenderweise mit einer übergroßen Badewanne aufwartete. Tatsächlich entpuppte sich dieser unscheinbare Raum als eine wahre Wellnessoase. Sandfarbene Bodenfliesen vermittelten das Gefühl, über einen Strand zu laufen. Der Wandbelag bestand aus Terrakotta oder ozeanblauen Fliesensplittern, die Wellen bildeten und sich mit echten Muscheln abwechselten. Bei näherem Betrachten entdeckte Lou Düsen in der Wanne. Ein Whirlpool. Das Einzige, was ihr dabei zu denken gab, war der Warmwasserboiler, den sie hinter einer Rattanverkleidung entdeckte.
Oje. Sieht ziemlich altertümlich aus!
Vermutlich ging ihr das warme Wasser aus, bevor die Düsen nur halbwegs bedeckt waren. Einen Versuch wäre es jedoch wert. Nach einigem Suchen fand sie den Einschaltknopf des Warmwasserboilers und betätigte diesen. Fröhlich zeigte sie ihrem Spiegelbild eine Grimasse. Schließlich las sie konzentriert die Anleitung auf der Packung des Haarfärbemittels durch, das sie von ihrem Friseur aus Deutschland mitgebracht hatte. Hellbraun. Ihre natürliche Haarfarbe. Es war an der Zeit, zu sich selbst zurückzufinden. Neues Leben – neue Haare. So hatte sie es sich zumindest vorgestellt.
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