Er zog eine Karte aus der Mitte und drehte sie um. Statt Schwarz trug der Mann auf ihr einen purpurnen Umhang, in seiner Hand keine Sense, sondern ein goldener Becher, als Pferd ein Thron. Die Aufschrift identifizierte ihn als „König der Kelche“. Dies war kein Film, Shane kein Held.
Fragend hielt er die Karte vor Fayes regungslosen Blick.
„Und? Was bedeutet es?“
Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Du weißt genau, was es bedeutet.“
„Sollte ich?“
„Es bedeutet nichts.“
„Nichts?“ Was für eine Wahrsagerin war sie eigentlich?
„Nichts.“
„Aber irgend etwas muss sie doch bedeuten. Ist das nicht der Sinn des Tarots? Die Bedeutung?“
Faye holte tief Luft, als bereitete sie sich darauf vor, einem begriffsstutzigen Kind zum wiederholten Male etwas Simples erklären.
„Okay. Meinen Kunden hätte ich irgendetwas von einer den schönen Künsten zugetanen Person erzählen. Nach Außen hin ruhig, aber unter der Oberfläche sehr emotional. Das Ganze garniert mit ein paar bedeutungsschwangeren Handbewegungen. Vielseitig interpretierbare Aussagen, nichts Konkretes. Ich liefere ihnen die gute Show, für die sie ihre fünf Dollar bezahlen.
Der Unterschied ist, dass die meisten von ihnen glauben, was ich ihnen erzähle. Dir dagegen“ – anklagend zielte ein beringter Finger auf Shanes Brust – „fehlt der Glaube an das Übersinnliche. Also hat die Karte auch keinen tieferen Sinn. Sie bedeutet, was du darin siehst. Nichts.“
„Aber...“
„Du willst Bedeutung? Gut.“ Sie näherte sich Shanes Gesicht und reduzierte ihre Stimme zu einem Flüstern. „Vielleicht ist es das Königsmotiv an sich, das wichtig ist.“ Nach dramatischen fünf Sekunden lehnte sie sich wieder zurück, ihre Stimme fiel zurück in den sachlichen Ton. „Vielleicht ist es aber auch etwas völlig anderes. Es hängt von dir ab.“
Verärgert ließ Shane den König auf den Tisch fallen. Die Lust an irgendwelchen Spielchen war ihm endgültig vergangen, die ganze Vorstellung kam ihm nur noch lächerlich vor.
Was machte er überhaupt hier, an diesem unwirtlichen Ort, zwischen einer Kristallkugel, Tarotkarten und ähnlichem esoterischen Humbug, gegenüber einer Amateurwahrsagerin, die offensichtlich keine Lust zum Wahrsagen hatte? Wenn Faye ihm auf ihre ganz spezielle Art irgendetwas mitteilen wollte, war sie gescheitert. Mit jeder Sekunde wuchsen seine Zweifel, dass von dieser Frau echte Hilfe zu erwarten war.
Faye bemerkte seinen wachsenden Unmut. „Entspann dich. Um deine Reise fortzusetzen, werden wir uns weltlicheren Mitteln bedienen müssen.“ Sie wuchtete den Gitarrenkoffer aus der Decke auf den Tisch. Mit ihrem weiten Ärmel wischte sie eine beeindruckende Staubschicht von der Oberfläche, dann ließ sie die beiden Schlösser aufschnappen.
Keine Gitarre. Auf rotem Samt lagen grüne Dollars. Einige von ihnen neuwertig, ordentlich gebündelt und mit Bauchbinden versehen wie frisch aus der Druckerei kommend. Die meisten jedoch gebraucht aussehend, zerknittert und durcheinander, dazwischen auch einige Münzen. Shane zählte mehr 100$ als 1$–Noten. Im Kopf schätzte er die Summe, die vor ihm lag. Es musste ein sechsstelliger Betrag sein.
„Hiermit wird es kein Problem sein, dir ein neues Fahrzeug zu besorgen.“ Sie ließ den Deckel wieder zufallen. „Allerdings verlange ich dafür eine kleine Gegenleistung.“
Am nächsten Morgen stand ich um 8.58 Uhr an der Ecke 5–205/Kopierraum, den ersten Arbeitstag vor und eine kribbelnde Nervosität in mir. Die Antizipation des Ungewohnten.
Pat saß bereits hinter ihrem Bildschirm, ihr Gesicht eine ungesunde Lichtmaske aus Leuchtstoffröhren, feuriger Morgensonne und fahlem Monitorschein. Missmutig tippte sie auf der Tastatur herum und warf mir zur Begrüßung ein knappes „Hey“ zu.
Unschlüssig stellte ich mich neben ihren Schreibtisch und wartete auf weitere Anweisungen. Schließlich unterbrach sie ihre Arbeit, gähnte und streckte sich ausgiebig.
„Tut mir leid, Kumpel, hab noch keinen Kaffee gehabt. Setz mal welchen auf.“
Froh, eine Aufgabe zu haben, ging ich auf die Männertoilette nebenan und besorgte eine Kanne Wasser. Fünf Minuten später war aus dem Wasser frischer Kaffee geworden. Pat stellte einen Becher vor mich. Ich wedelte abwehrend mit den Händen, doch bevor ich es verhindern konnte, hatte sie ihn randvoll geschenkt.
„Nein, nein. Danke.“
„Doch, doch. Ich habe doch gesagt, ich werde dich daran gewöhnen.“
Pat füllte ihren Becher und nahm laut schlürfend einen ersten Schluck, als würde sie einen teuren Wein verkosten.
„Nicht schlecht. Aber das nächste Mal bitte ein wenig stärker.“
Den dampfenden Becher in der Hand stützte sie ihre Ellenbogen lässig auf die untere Hälfte der Eingangstür und schaute der zunehmenden Aktivität der eintrudelnden Studenten zu. Ich stellte mich neben sie und beobachtete die kleine Formation Luftblasen, die auf der schwarzen Oberfläche in meinem Becher trieb. Pat schaute mich amüsiert von der Seite an. „Nur Mut, er wird dich nicht umbringen. Du hast ihn schließlich selbst gebrüht.“
Aus Höflichkeit nippte ich vorsichtig am Kaffee. Im ersten Moment gab es nur heiß und bitter. Doch dann kristallisierte sich so etwas wie ein würziger Nachgeschmack heraus. Nicht gänzlich unangenehm. Allerdings viel zu intensiv.
Pat hatte bereits mehr als die Hälfte ihres Bechers geleert und war merklich gesprächiger geworden. Sie nickte in Richtung des ansehnlichen Papierstapels, der sich neben ihrem Computer türmte.
„Den ganzen Mist muss ich heute noch abschreiben“, schnaubte sie. „Zu Semesterbeginn ist es immer am schlimmsten. Die Leute scheinen zu glaub––“
Ein lauter Knall aus dem Kopierraum unterbrach sie. Es hörte sich an, als ob jemand mit der flachen Hand auf eine Motorhaube schlug. Wie ein Bluthund, der plötzlich eine Beute wittert, hielt Pat inne. Sie stellte ihren Becher so abrupt ab, dass ein guter Teil des restlichen Inhalts herausschwappte und sich in Form einer hellbraunen Lache Richtung Tischkante aufmachte. In einer einzigen fließenden Bewegung hatte sie mit der anderen Hand die Türhälfte entriegelt und mich zur Seite gestossen. Zwei Sekunden später war sie im Kopierraum.
Für einen Moment konnte ich mich nicht entscheiden, ob ich mich um den verschütteten Kaffee – der inzwischen kurz davor war, auf den Teppich zu tropfen – kümmern oder Pat folgen sollte. Meine Neugier siegte, bestärkt durch die Tatsache, dass es nichts zum Aufwischen in der Nähe gab.
Der Kopierraum war Enge und Tonergeruch, Maschinengeräusche und ein müder Linoleumboden. Grifflose Panoramafenster an der Rückwand, ähnlich denen in Pats Büro, nur schmutziger, streckten sich vom Boden bis zur Decke und schickten Tageslicht in den Wettkampf mit der optischen Kälte der Neonröhren. Ein Raum, der hunderte, tausende Besucher gesehen haben musste. Einer von vielen ähnlichen im College. Meine neue Heimat.
Vor dem größeren der beiden Kopierer stand eine Frau. Ich tippte auf eine der Collegeprofessorinnen. Sie trug einen altmodisch klein gemusterten Rock, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Das ergrauende Haar hatte sie streng nach hinten gekämmt und zu einem kompliziert aussehenden Dutt gebunden. Eine Person aus der Vergangenheit, die gezwungen war, sich mit moderner Technik abzugeben.
Energisch schlug sie mit der Handfläche auf die Oberseite der Maschine ein, als handelte es sich um ein störrisches Maultier, das sie einen Berg hochtreiben wollte. Anscheinend war ein guter Teil des Papiers, das sie in den Blatteinzug des Kopierers hineingestopft hatte, entgegen ihrer Erwartung nicht wieder am anderen Ende aufgetaucht, sondern irgendwo in den Untiefen des Geräts verschwunden.
Unbemerkt hatte sich Pat mit in die Hüfte gestemmten Armen hinter der Frau aufgebaut und wurde Zeugin, wie diese ihre Strategie dahingehend verlagerte, in einem sinnlosen Anfall von Ratlosigkeit alle Knöpfe, die auf dem Bedienfeld vorhanden waren, gleichzeitig zu drücken. Der Kopierer reagierte auf diese Form blinden Aktionismus mit der stoischen Gelassenheit, die nur einer Maschine eigen ist. Ganz im Gegensatz zu Pat, deren pochende Halsschlagader erkennen ließ, dass sich in ihr gerade ein gefährliches Wutpotenzial aufstaute.
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