„Fühl mal, hier hinter dem Kotflügel.“
Shane führte seine Hand von unten in den Motorraum und ertastete den Draht einer seltsamen Schleife. Fragend blickte er Mr. Carpenter an.
„Zieh dran.“
Shane zog und die Motorhaube sprang aus ihrer Verriegelung. Carpenter öffnete sie komplett und deutete auf eine versteckte Nische hinter der Batterie. Dort fand sich in einem Plastikbeutel ein weiterer Schlüsselbund mit allen drei Schlüsselarten.
„Das habe ich mir eingerichtet, nachdem ich mich einmal ausgesperrt hatte. Danach musste ich keine Angst mehr haben, dass mir das noch einmal passiert. Raffiniert, nicht wahr?“
Der Alte mochte skurril sein, war aber offensichtlich nicht blöd. Shane streckte ihm die Hand entgegen und suchte nach passenden Abschiedsworten. „Tja, dann also vielen Dank.“
Ein Handschlag besiegelte das Geschäft. Die Finger des alten Mannes übten einen unerwartet kräftigen Druck aus. Shane wollte loslassen, doch Carpenter hielt seine Hand über die für einen durchschnittlichen Händedruck übliche Zeit.
„Eine Sache noch“, sagte er und sah Shane ernst in die Augen.
Im Stillen hatte Shane es befürchtet – es gab noch etwas. Irgend etwas, das mit dem Wagen nicht stimmte, oder irgendwelche versteckten Zusatzkosten. Der sprichwörtliche Haken an der Sache.
Doch Carpenter zerstreute seinen Anfangsverdacht.
„Du musst gut zu dem Wagen sein. Dann wird er auch gut zu dir sein. Versprichst du mir das?“
Meinte der Alte es ernst? Er suchte nach einem Anflug Ironie in dem starren Blick, doch nicht einmal ein Blinzeln verdeckte das durchdringende Augenpaar. Dafür schien der Händedruck mit jeder Sekunde stärker zu werden.
„Sicher“, sagte Shane und war sich gar nicht sicher.
Die Antwort schien Carpenter dennoch zu befriedigen. Er lockerte seinen Griff. Das warme Lächeln kehrte so schnell in sein Gesicht zurück wie das Blut in Shanes pochende Hand. Gemeinsam verfrachteten sie das Fahrrad in den großzügig bemessenen Kofferraum, wo es beinahe verloren wirkte. Als Shane das Oldsmobile aus der Einfahrt fuhr, ließ er einen zum Abschied winkenden Matthew Carpenter im Rückspiegel zurück. Erleichterung stellte sich ein. Ein wichtiger Schritt zur Umsetzung seiner Reise war geschafft.
Vom ehrlichen Hank hörte er nichts mehr. Wahrscheinlich war er den Caddy in der Zwischenzeit an jemanden losgeworden, der damit besser umgehen konnte.
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Eine Sequenz aus weinroten Plastikrechtecken, Bürotüren und Milchglasscheiben des Licht–reinlassen–aber–neugierige–Blicke–aussperren–Typs begleitete mich auf meinem Weg durch die Korridore des Colleges. Mit weißen Steckbuchstaben informierten die Türschilder über Zimmernummer, Abteilung und Namen der jeweiligen Person, die sich hinter den immer gleichen Türen verbarg. Die leeren Flure strahlten eine beruhigende Regelmäßigkeit aus; kein Vergleich zu dem aufwühlenden Zettelmosaik des Job Boards.
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Textverarbeitung
P. Norris
Der Raum war nicht zu verfehlen. Obwohl etwas unscheinbar in die Ecke gedrängt, zwischen den öffentlichen Toiletten und einem weiteren unbeschrifteten Raum, aus dem ein mechanisches Rattern kam, nicht unähnlich den Geräuschen, die ich aus dem Fotolabor kannte, fiel 5–205 aus dem Rahmen. Es war der einzige Raum, dessen Tür horizontal geteilt war, sodass sich obere und untere Hälfte separat bedienen ließen.
Die Eingangstür war nicht zu verfehlen, denn sie unterschied sich von allen anderen auf dem Gang dadurch, dass sie zweigeteilt war. Neben ihr versperrte dasselbe undurchsichtige Glas wie am Nebenraum den Blick, doch durch die geöffnete obere Türhälfte konnte man einen Teil des Raumes sehen. Das einzige Möbelstück darin war ein grauer Tisch, auf dem ein ebenso grauer Computer und Drucker standen. Auf der Fensterbank verrichtete eine verkalkt röchelnde Kaffeemaschine ihren Dienst und verströmte dabei einen eigentümlichen Duft. Niemand war anwesend.
Ich wollte eintreten, doch die Tür, besser gesagt ihre untere Hälfte, war verschlossen. Auf Zehenspitzen streckte ich meinen Oberkörper über die Türhälfte und sah, dass sich der Raum noch ein gutes Stück nach links fortsetzte. Dort gab es einen Durchgang in ein zweites Büro.
Noch ein Schreibtisch, noch ein Computer. Nur dass hinter diesem Monitor eine dunkelhaarige Frau saß – P. Norris? – und eifrig auf der Tastatur klapperte. Ihr Blick wechselte ständig zwischen dem Monitor und einer Art Greifarm, der ein Blatt Papier hielt.
„Hallo?“
Die Frau warf mir einen flüchtigen Blick über den Rand ihrer Brille zu.
„Was kann ich für dich tun?“, fragte sie, und es klang nicht so, als ob sie es wirklich wissen wollte. Sie fing bereits wieder an, weiterzuschreiben.
„Hier steht, dass Sie eine Aushilfe suchen.“ Ich schwenkte den Zettel von der Pinnwand. „Ich wäre interessiert.“
Damit schien ich einen Bruchteil an Interesse geweckt zu haben. Sie unterbrach ihr Tippen ein zweites Mal, blies sich eine schwarze Locke aus der Stirn und musterte mich genauer.
„Komm rein. Musst die Tür von Innen aufmachen.“
Ich tastete nach dem Türknopf und schaffte es schließlich, den unteren Türteil umständlich von Innen zu entriegeln. Mit einem energischen Heranwinken beorderte mich Mrs. Norris in ihr Reich.
Das Büro, das ich betrat, hätte in keinem größeren Kontrast zum kargen Vorzimmer stehen können. Zwei seiner Wände waren von Boden bis Decke verglast. Die grifflosen Fenster boten eine spektakuläre Aussicht auf den betriebsamen Campus und ließen den Raum am üppigen Frühlingslicht teilhaben.
Das Weiß der beiden übrigen Wände war größtenteils verdeckt von einem großen Terminplaner, einer Sammlung von aus Zeitungen ausgeschnittenen politischen Karikaturen und diversen Postern. Eines zeigte die dramatische Großaufnahme eines Footballspielers im Moment der Ballannahme. Ein anderes das scherenschnittartige Profil eines Mannes vor einem Wachturm. Darunter der kryptische Satz „POW*MIA – You are not forgotten“.
Unter dem Terminplaner befand sich ein ähnlicher Tisch wie im Vorraum, dieser jedoch komplett in Beschlag genommen von einem zweiten, größeren Drucker, daneben ein Mikrowellenherd, Plastikbesteck, eine geöffnete Schachtel Filtertüten, Servietten und eine Monatspackung Kaffeeweißer. Kein Wunder, dass die Kaffeemaschine ins Vorzimmer ausquartiert worden war. Dies war kein einfaches Büro, eher eine randvolle Kombination aus Küche, Wohn– und Arbeitszimmer. Überall stand, hing, lag etwas. Das Zimmer eines Menschen, der viel Zeit in diesen Räumlichkeiten zubrachte, über die Jahre seine Spuren hinterlassen und ihn zu einer Alltagsoase umdekoriert hatte. Das Zimmer von
„Patricia Norris.“ Sie streckte mir ihre Hand entgegen. Ich schüttelte sie. „Ich lass die untere Hälfte immer zu“, erklärte Mrs. Norris mit einem Nicken in Richtung Tür. „Damit hier nicht jeder Trottel rein– und rauspaziert. Nimm Platz.“
Ich zog einen klapprigen Drehstuhls vor Mrs Norris’ Tischkante, an der eine Begrenzung aus benutzten, mit dem Logo des College verzierten Kaffeebechern, einem blühenden Kaktus und einem Halbkreis vergoldeter Fotorahmen den Beginn ihrer Privatzone markierte. Dahinter spiegelte der Schreibtisch eine verkleinerte Version des Büros wieder; seine Oberfläche war kaum noch sichtbar, begraben unter den Utensilien globaler Bürokultur – Tastatur, Telefon, Büroklammern, Locher, Bleistifte, Kugelschreiber, Radiergummis.
Durch die neuartige Situation ohnehin mit einer irritierenden Unruhe vorbelastet, suchten meine Blicke Halt im Chaos, einen einzelnen Fixpunkt, irgendetwas. Ich entschied mich für die Fotorahmen.
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