Der Segen hielt genau zwei Wochen, bis zum Ende der Weihnachtssaison. Für das Fotolabor bedeutete das weniger Arbeit. Für mich eine beunruhigende Erkenntnis: Ich musste mich nach einen neuen Job umsehen.
So kam es, dass ich wieder zurück zu den Ursprüngen gekehrt war: in mein ehemaliges College. Hergeführt hatte mich die Erinnerung an das „Job Board“, die Pinnwand, vor deren Anblick ich nun die Augen verschlossen hatte.
Sie war berüchtigt dafür, dass an ihr neben einer Unzahl unsinniger Werbebotschaften ebenso viele mehr oder weniger unsinnige Arbeitsangebote aushingen. Da die Zielgruppe zu 100 % aus Studenten bestand, handelte es sich bei den meisten von ihnen um Beschäftigungen, die keinen großen Reichtum versprachen, dafür aber auch keine besonderen Qualifikationen erforderten. Ergo war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich um erfrischend monotone Tätigkeiten handeln würde. Das Schwindelgefühl ebbte ab. Ich öffnete die Augen und ruhte sie auf der Leere der beige gestrichenen Wand aus.
Nur dass diese nicht leer war.
Ein schlichtes Blatt Kopierpapier hatte sich neben die Pinnwand verirrt. Drei Zeilen Text in zurückhaltender Größe, sorgsam zentriert auf 300 Quadratzentimeter Blütenweiß. Ein Augenschmaus, befestigt mit einem einzigen Streifen Tesafilm. In die linke obere Ecke war das Collegelogo gedruckt, das dem Papier etwas würdevoll Offizielles verlieh. Ansonsten bestach die Anzeige durch auffällige Unauffälligkeit. Meine Augen blieben an dem Papier hängen, dankbar für die Erholung.
Ich las.
Aushilfe gesucht
Abteilung Textverarbeitung
Raum 5–205
Weiter nichts.
Textverarbeitung, überlegte ich und stierte auf das Blatt Papier, als würde es dadurch zusätzliche Informationen liefern. Könnte angenehm sein. Schon sah ich mich an einem Computer sitzen, neben mir ein nicht endender Berg von Daten, der in die immer gleichen Felder eingetragen werden musste.
Aus meiner Studienzeit war mir das Nummerierungssystem der Collegeräume gut in Erinnerung geblieben. Die erste Ziffer bezog sich auf das Gebäude, die zweite auf das Stockwerk. Gebäude 5 war nicht weit entfernt, es begann direkt am Ende des Ganges. Und im zweiten Stockwerk befand ich mich bereits. Die Abteilung Textverarbeitung musste buchstäblich um die Ecke liegen. Ich riss den Zettel von der Wand und ging meiner neuen Aufgabe entgegen.
Jede Reise benötigt ein Transportmittel. Shanes Zeigefinger fuhr durch die Bleiwüste der Kleinanzeigen und zog eine Bremsspur aus Druckerschwärze hinter sich her. Bei den Worten „Kombi“ kam er zum stehen.
Die Tageszeitung hatte aufgeschlagen auf dem Küchentisch gelegen. Einen langen Moment hatte Shane sie angestarrt wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Dann gewann Pragmatik die Oberhand. Er zog den Gebrauchtwagenteil aus dem Papierstapel und breitete ihn vor sich aus. Unter den unzähligen Angeboten würde er sicher etwas Passendes finden.
Seine Anforderungsliste an ’etwas Passendes’ war kurz – sie beschränkte sich auf zwei wichtige Punkte. Beide reduzierten die Zahl der in Frage kommenden Fahrzeuge allerdings deutlich.
Punkt eins: Es durfte nicht viel kosten. „Nicht viel“ bedeutete in seinem Fall maximal 1000 $. Für dieses Geld erwartete er keine Schönheit, aber mindestens einen Zustand, der das Auto eine längere Strecke ohne große Aussetzer überleben ließ. Insgesamt standen ihm knapp 1500 $ zur Verfügung – eine Summe, die er sich mühsam von seinen letzten beiden schlecht bezahlten Jobs abgespart hatte. So blieben ihm immer noch 500 $ für Motelübernachtungen, Benzin, Essen und die mit Sicherheit auftretenden unerwarteten Ereignisse entlang des Weges. Falls das Geld ihm vorzeitig ausging, würde er im Auto übernachten. Deshalb – Punkt zwei – musste es geräumig genug sein, um eine Schlafmöglichkeit zu bieten. Vielleicht ein Van oder Ähnliches.
Die Angebote waren nach ihren Verkaufspreis in Spalten geordnet. Unglücklicherweise bewegte sich der überwiegende Teil der Anzeigen in preislich inakzeptablen Regionen. Für Angebote bis 1000 $ war die Auswahl bereits wesentlich begrenzter. Shane zählte zwölf Anzeigen, die preislich in Frage kamen. Doch bei genauerem Hinschauen musste er ernüchtert feststellen, dass die meisten Beschreibungen Aussagen wie „als Teilespender“, „nicht fahrbereit“ oder gar „ohne Motor“ enthielten. Dies traf auch auf den einzigen Van zu, der sich zudem in einem „restaurationsbedürftigen Zustand“ befand. Übrig blieben immerhin noch vier Angebote. Shane verpasste den Anzeigen einen Kugelschreiberkringel. Er griff zum Telefon und wählte die erste Nummer. Klackernd baute sich die Verbindung auf und nach dem dritten Klingeln sagte eine Männerstimme einen unverständlichen Namen.
„Hi.“ Shane räusperte sich. „Ich rufe wegen der Anzeige an.“
„Welche Anzeige?“ Der Mann klang ehrlich erstaunt.
„Das Auto. Der Kombi“
Stille am anderen Ende. Dann „Der ist schon vor drei Wochen verkauft worden.“
Shane schielte auf das Datum in der oberen Ecke der Zeitungsseite, während ihm einfiel, dass er keine Ahnung hatte, welcher Tag gerade war. Sich für die Störung entschuldigend legte er auf.
Der nächste Versuch. Seine zweite Wahl, ein Buick Apollo, Baujahr 1973, hatte laut Anzeige zwar bereits mehr als 150.000 Meilen zurückgelegt, aber mit 800 $ auf jeden Fall bezahlbar. Diesmal wurde sofort abgenommen.
„Ja?“
Wieder eine Männerstimme, und für einen kurzen Moment dachte Shane, dass er dieselbe Nummer versehentlich noch einmal gewählt hatte.
„Äh, ja, ich rufe an wegen – er schielte auf die Anzeige – dem Apollo?“
„Ja?“
Zwei Sekunden peinliches Schweigen, während Shane nach den richtigen Worten kramte. Wie lange war es her, dass er mit einem Menschen geredet hatte?
„Ist der noch zu haben?“
„Jap.“
Zumindest würde dieser Verkäufer ihm nichts aufschwatzen.
„In welchem Zustand ist der denn so?“, fragte Shane, und hoffte, so etwas wie ein Gespräch in Gang zu bringen.
Dumme Frage. Er würde am Telefon wohl kaum etwas Schlechtes über sein Auto sagen.
„Läuft gut.“
„Aha. Ähm, kann ich mal für eine Probefahrt vorbeikommen?“
„Jap.“
Der Mann nannte seine Adresse und Shane legte auf. Geschafft. Zwei von vier. Und weiter. Zwei Anrufe später hatte er insgesamt drei Termine vereinbart. Zuversichtlich blickte er auf die Liste. Drei Probefahrten. Eine gute Trefferchance. Der Plan nahm Gestalt an.
A, B, C, ... Alphabetisch bewegte sich Shane auf sein Ziel zu, unter dem Arm einen durchgeschwitzten Stadtplan, in seiner Jeanstasche das Bündel Geldscheine. Allmählich machte ihm die Hitze merklich zu schaffen. Der Fahrtwind brachte nur wenig Kühlung.
Obwohl er das klapprige Fahrrad im Höchsttempo durch die Straßen trieb, hatte er das Gefühl, stillzustehen. Die Wege dehnten sich ins Unendliche, ein urbaner Zerrspiegel, späte Nachwirkungen seines kargen Frühstücks.
Trotzdem fühlte er sich fantastisch. Lange verloren geglaubte Energie war zurückgekehrt und mit ihr neue Perspektiven und der unbezwingbare Drang, sein Vorhaben Wirklichkeit werden zu lassen. Von Euphorie beflügelt trat er noch stärker in die Pedale.
Das Viertel, durch das er fuhr, war in der Mehrheit von Latinos bewohnt, was man schon daran erkannte, dass die Avenues hier „Avenida“ hießen. Offensichtlich hatten die Stadtplaner dieser Gegend keine große Lust gehabt, sich sinnvollere Straßennamen auszudenken. Auf die Avenida A folgte Avenida B. Der inserierte Apollo wartete neben dem Haus in der Avenida E. Auf Shanes Klingeln öffnete ein schwarzhaariges Mädchen die Tür und blickte mit neugierigen Murmelaugen an ihm hoch.
Shane rang sich ein Lächeln ab. „Hi, ist dein Papa da?“
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