»Was denn?« Er hob die Arme. »Du bist nicht gerade eine große Hilfe.«
Emmy schnaubte. »Wir waren doch schon fertig, du Kamel.«
»Ja, notgedrungen, da das Kleid ja scheinbar vorgeht.«
Gerade als sie zum Gegenangriff ansetzen wollte, wurde plötzlich die Tür des Gäste-WCs aufgeworfen. Ein großer Mann stürzte hinaus, schleuderte mich mit aller Gewalt zur Seite, wodurch ich zu Boden ging, und flüchtete zur Haustür hinaus. Der Vorgang hatte mir einen Schock versetzt, so sehr, dass ich nicht einmal zum Schreien imstande war.
»Da ist er!«, bemerkte dafür Hannes lauthals.
»Hinterher!«, brach auch Emmy nach dem ersten Schrecken in mörderisches Kampfgeschrei aus, ließ das Kleid einfach fallen und zeigte in die Richtung, in die sie laufen mussten.
Hannes und Emmy setzten sich zeitgleich in Bewegung und gerieten auf der schmalen Treppe ungünstig nebeneinander. Dadurch behinderten sie sich bloß gegenseitig, statt das Untergeschoss schnell zu erreichen. Mit den Ellenbogen stießen sie sich gegenseitig voneinander weg, brachen schlagartig in Zank und Streit aus, bis Emmy auf dem unteren Treppenabsatz ins Straucheln geriet, sich reflexartig an Hannes festhielt, als die fiel, und ihn mit sich riss.
Und das alles, während ich mich wieder aufgerappelt und diverse Fusseln und andere Dreckkrümel von meiner Hose geschlagen hatte. Angefressen trat ich die Tür ins Schloss. Ich war fertig mit der Welt.
»Geee-eh runter von mir«, stieß Emmy ihren Ehemann, der bäuchlings auf ihr lag, mit den Händen von sich. Dabei führte sie sich auf, als hätte ein grünes, stinkendes Schleimmonster sie überfallen.
»Bleib mal cool, Em, ich glaube nämlich, ich habe mir die Hand verknackst.« Er hievte sich irgendwie auf die Knie. Emmy richtete sich mithilfe ihrer Unterarme auf.
»Oh! Mein! Gott!«, schrie sie nun.
Hannes hielt seine rechte Hand vor sich und begutachtete sie von allen Seiten. Der kleine Finger war völlig deformiert, sah sogar ein bisschen aus wie eine Treppenstufe, und das Handgelenk war schlagartig angeschwollen.
Emmy kreischte wie am Spieß, versuchte, wieder auf die Füße zu kommen, indem sie mit den Beinen strampelte, als hielte sie jemand daran fest. Dabei trat sie Hannes aus Versehen mehrmals gegen seine Knie, weil sie immer wieder wegrutschte mit ihren glatten Sohlen. Als sie endlich senkrecht stand, schüttelte sie sich heftig vor Grauen.
Auch ich konnte nicht hinsehen, nichtsdestotrotz musste ich mich aus Respekt zu Hannes zusammennehmen, um nicht schallend loszulachen dank Emmys filmreifer Reaktion.
»Kann vielleicht mal irgendeiner den Arzt rufen?«, blieb Hannes die Ruhe in Person, obwohl er kreideweiß war.
»Ja ... ja, klar.« Ich suchte das Telefon. Natürlich stand es in solchen Momenten nicht auf der Ladestation und war prinzipiell nirgends auffindbar. Also rief ich mich in meiner Verzweiflung vom Handy aus selbst an, bis Hannes, der sich derweil auf der untersten Treppenstufe niedergelassen und die verkrüppelte Hand in den Schoß gelegt hatte, mich darauf aufmerksam machte, dass ich den Arzt auch von meinem Handy aus anrufen könnte.
Aufgrund meiner Trotteligkeit lachte ich nervös und nahm seinen Vorschlag dankend an. Als ich den Anruf erledigt hatte, ärgerte ich mich über die freche Äußerung, ob es Hannes nicht irgendwie eigenständig ins Krankenhaus schaffen könnte. Schließlich hätte er ja, nach eigener Aussage (was so viel hieß wie: wir, die keine Medizin studiert hatten, hätten nicht die geringste Ahnung), lediglich einen gebrochenen Finger und ein enorm geschwollenes Handgelenk – es gäbe nun wirklich schlimmere Fälle. Da das nächstgelegene Krankenhaus fünfzehn Kilometer von hier entfernt lag und Hannes der einzig Anwesende in Besitz eines Pkw-Führerscheins war, hatten wir uns eben nicht anders zu helfen gewusst.
»Ist schon gut, reg dich nicht auf. Ich kriege es schon irgendwie hin, das Auto zu führen.« Er wollte nur noch eben den ersten Schock überwinden, damit er das Auto nicht in der nächsten Kurve gegen einen Baum lenken würde.
Seufzend setzte ich mich zu ihm auf die Stufe, während Emmy krampfhaft versuchte, ihren Ehemann beziehungsweise die Verletzung zu ignorieren. Stattdessen liebäugelte sie mit dem funkelnden Kronleuchter an der Flurdecke. Mir saß der Schreck allerdings nicht weniger in den Knochen. Meine Knie zitterten und schwindelig war mir auch.
»Traust du dir das denn wirklich zu?«, war ich dafür umso skeptischer.
»Aber natürlich!«
»Das Gäste-WC hab ich nicht bedacht«, wechselte Emmy geflissentlich das Thema, als ob sie es so gar nicht mochte, dass wir, Hannes und ich, so gut miteinander auskamen.
»Ich schon«, gestand ich, »aber ich habe mich nicht getraut, hineinzusehen.«
»Dann hättest du wenigstens etwas sagen können«, warf Hannes mir vor.
»Zwar habe ich eine Vorahnung gehabt, aber woher sollte ich wissen, dass der Typ sich wirklich darin aufgehalten hat?« Es war mir sogar absurd vorgekommen, wenn nicht sogar paranoid.
»Na ja, nun ist es zu spät«, merkte Emmy an.
Hannes und ich sahen sie nachdenklich an.
»Übrigens war das nicht Matz«, raunte ich ihm zu, während ich den Blick zur Haustür richtete, damit mir der Anblick seiner Hand ebenfalls erspart blieb.
»Nicht?«, war Hannes sichtlich erstaunt.
»Warum sollte er denn in einem Weihnachtsmannkostüm herumlaufen?«
»Nun, es hätte ja gut möglich sein können, dass er als Weihnachtsmann jobbt.«
Auf der Stelle prusteten Emmy und ich los.
»Ich schätze, das war der Einbrecher von vorgestern«, erklärte ich dann mit routinierter Gelassenheit.
Hannes sah mich entsprechend baff an, während sich auf seiner Stirn eine Sorgenfalte bildete. »Was für ein Einbrecher?«
»Hat Emmy ihn dir gegenüber nicht erwähnt?«
Er schüttelte den Kopf und blickte vorwurfsvoll zu ihr hinüber. Sie starrte noch immer zum Kronleuchter, nur dass sie jetzt leise vor sich hin pfiff.
Als ich gestern Abend bei Emmy und Hannes zu Hause eingetroffen war, war die Stimmung besser als erwartet. Man hatte kaum glauben können, dass ihre Ehe vor dem Aus stand. Erst hier und heute wurde das Problem, das Emmy geschildert hatte, sichtbar. Dennoch fragte ich mich, was sich von gestern auf heute geändert hatte.
Ich erzählte ihm von dem Vorfall, doch nicht mit all seinen Details, da mir das Thema allmählich aus dem Hals hing.
»Und nun lässt du ihn einfach so davonkommen?«
»Was soll ich sonst tun? Ich will die Polizei mit ihrem schwarzen Pulver nicht schon wieder in meinem Haus haben, wenn eh nichts dabei herumkommt.« Es mochte einfältig klingen, doch seit er dieses Bild hatte mitgehen lassen, war ich mir fast sicher, dass keine Gefahr von ihm ausging, auch wenn er sich nicht gescheut hatte, mich schon ein zweites Mal durch recht energisches Schubsen aus dem Weg zu räumen. Mir war nur schleierhaft, was ihn erneut hierher geführt hatte. Sollte das nun zur Gewohnheit werden?
»Dann schaff dir wenigstens eine Alarmanlage an«, riet Hannes mir, »damit du nicht immer wieder solch eine unangenehme Überraschung erlebst.«
»Hm«, grübelte ich.
»Hm?«
»Ich habe mir überlegt, dass ich das nächste Mal auf ihn vorbereitet sein werde. Ich möchte mit ihm Kontakt aufnehmen, will wissen, was er mit meinem Foto vorhat.«
Es war unübersehbar, dass Hannes gerade vom Glauben abfiel. Er war regelrecht betäubt, sodass seine Lippen sich bewegten, aber nichts drüberkam.
»Und wann hast du dir das überlegt?«, mischte jetzt auch Emmy mit. »In den letzten fünf Minuten?«
Natürlich war das leichtsinnig, wenn nicht sogar ein bisschen gaga, aber mich wollte der Gedanke nicht loslassen, dass er wegen mir da gewesen war und meine Gäste ihn nur eingeschüchtert hatten.
Читать дальше