„So viel solltest du nicht davon trinken“, meinte er und nahm mir das Glas wieder weg.
Ich schenkte mir noch mal ein Glas ein, aber diesmal weniger. Ich trank es in einem Zuge aus. Mir brannte gleich der Hals, und ich bekam gleich einen Hustenanfall. Was war das denn für ein Teufelszeug?, dachte ich mir.
„Pur ist nicht so gut“, meinte Marco.
Mir wurde auf einmal total komisch. Ich wollte nur noch weg von hier. Es kam mir vor, als würde ich jeden Moment umkippen. Ich setzte mich auf einen Stuhl und kämpfte mit meiner Übelkeit.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte mich Marcos Schwester.
„Nein, nicht besonders. Ich glaube, ich gehe jetzt lieber.“
„Willst du jetzt schon gehen?“, fragte Marco.
„Mich hält hier nichts mehr.“
„Wegen Nadim? Ich kann dich trösten.“
„Danke, aber ich gehe jetzt lieber.“
„Ich fahre dich nach Hause“, meinte Marcos Schwester. „Du siehst ja wirklich nicht gut aus.“
„Wer ist sie eigentlich?“, fragte ich Ferry noch, bevor ich ging.
„Keine Ahnung, wie sie heißt. Sie ist Perserin und zu Besuch bei Nadim.“
Na toll, dachte ich mir. Wahrscheinlich war er ihr versprochen. Oh mein Gott, wie konnte ich nur so dumm sein und denken, dass er mich immer noch liebte? Er hatte mir ja auch schon seit einem halben Jahr keinen Brief mehr geschrieben, und als ich ihn mal zufällig gesehen hatte, war er kurz angebunden gewesen. Seine Eltern hatten ihn voll manipuliert und es auch noch geschafft, mich aus seinem Herzen zu reißen. Ich konnte es nicht glauben, dass dies mein Nadim war, der mich mal hatte heiraten wollen. Da hatte ich mich ja schön getäuscht. War doch bloß ein Märchen gewesen, das ich geträumt hatte.
Als ich gerade gehen wollte, kam Nadim herein.
„Warte“, sagte er. „Ich kann dir alles erklären.“
Er brauchte mir nichts zu erklären. Ich sah es auch so, war ja nicht blind.
„Lass mich in Ruhe“, sagte ich und ging.
Ich wollte ihn nie mehr sehen.
„Ich heiße übrigens Marina“, meinte Marcos Schwester.
„Ist Nadim dein Freund?“, fragte sie, weil sie alles mitbekommen hatte.
„Das dachte ich mir zumindest.“
„Verliebe dich nicht in einen Perser. Ferry hat mich auch schon angemacht, aber ich lass lieber die Finger davon. Der ist mir zu gefährlich.“
„Ja, vielleicht besser so. Außerdem hat er eine Freundin.“
Sie versuchte, mich auf der Fahrt aufzuheitern, aber es gelang ihr nicht. Auch der Satz „Andere Mütter haben auch schöne Söhne“ konnte mich nicht aus meiner Traurigkeit reißen.
Als Oma die Tür öffnete, blickte sie mich gleich sorgenvoll an.
„Du siehst ja fürchterlich aus“, sagte sie.
„Ich fühle mich auch so.“
„Hast du was getrunken? Du hast ja eine Fahne.“
„Ja, ein bisschen. Mir ist schlecht.“
„Schnell ins Bett mit dir. Ich mache dir einen guten Tee.“
Ich verkroch mich in die dicken Federbetten und ließ die blöde Welt hinter mir. In meinem Kopf drehte sich das Karussell des Lebens, und mit ihm schlief ich noch ein, bevor Omas Tee fertig war.
Nadim rief am nächsten Tag bei Oma an, weil er sich Sorgen gemacht hatte. Ich sagte Oma, dass ich ihn nicht sprechen wollte. Er war für mich gestorben. Es gab ihn nicht mehr. Mein Herz hatte ihn ausgelöscht. Schließlich hatte ich auch meinen Stolz.
Zu Hause schmiss ich vor Wut meinen Engel an die Wand. Mit gebrochenen Flügeln legte ich ihn in eine Schachtel, denn wegschmeißen konnte ich ihn nicht.
Ich malte wieder, und meine Bilder wurden immer besser. Die Schule versuchte ich so gut wie möglich zu schaffen, damit ich Kunst studieren konnte, denn das war das Einzige, das mich wirklich interessierte. Ich verbrachte jede freie Minute mit Sabi. Wir waren unzertrennlich bis zu dem Zeitpunkt, wo sie Marcel kennenlernte. Ab da hatte sie fast keine Zeit mehr für mich, weil er ihr wichtiger war.
Ich lag mit Anna auf der Terrasse und spielte Kirschkernweitspucken mit ihr. Ich wohnte bei ihr, seit ich meine Beziehung mit Thomas beendet hatte. Anna studierte Journalistik, war halb Spanierin, halb Deutsche, und ich hatte sie in dem Café kennengelernt, in dem ich bediente. Wir unterhielten uns öfter, weil wir uns sympathisch waren. Sie setzte sich auch immer in meinen Servicebereich. Eines Tages fragte sie mich, ob wir mal zusammen weggehen würden. Ab da waren wir dicke Freundinnen. Anna war für mich eine kleine Göttin. Sie war sehr hübsch mit ihrer langen schwarzen Mähne und ihrer kaffeebraunen Haut. Sie fand sich zwar immer zu mollig, aber ich fand sie weiblich. Sie hatte den großen Busen, den ich immer haben wollte. Thomas mochte sie nicht, weil wir uns zu gut verstanden, aber das war mir egal, denn Anna gab ich nicht auf, nicht wegen einem Mann. Anna arbeitete nebenbei bei der Zeitung ihrer Mutter. Der Job im Café war abwechslungsreich, und man lernte viele Leute kennen, genau das, was ich nach Thomas brauchte.
***
Die Zeit mit Thomas war eigentlich nicht erwähnenswert, zumindest nicht im Nachhinein, nur der Anfang und das Ende. Ich war froh, dass ich zu ihm hatte ziehen können, denn zu Hause hatte ich es nicht mehr ausgehalten, weil meine Mutter ständig an mir herummeckerte. Ich lernte ihn im Café kennen. Ich las vertieft in einem Buch. Es war so spannend, dass ich sogar meinen Cappuccino vergaß. Das Café war brechend voll, und ein Typ fragte mich, ob er sich an meinen Tisch setzen könnte. Ich bestellte mir noch mal einen Cappuccino, weil er kalt wirklich nicht schmeckte. Obwohl meine Oma immer sagte, dass kalter Kaffee schön mache. Das Rezept konnte ich ja mal anwenden, wenn ich vierzig war, vielleicht zauberte er dann meine Falten weg. Ich vertiefte mich wieder in mein Buch und vergaß die Welt um mich. Allerdings spürte ich, dass dieser Typ mich die ganze Zeit anstarrte. Vielleicht hatte ich ja was im Gesicht? Ich wischte mir mit der Hand darüber und las weiter, aber er starrte mich immer noch an. Ich konnte mich gar nicht mehr konzentrieren. „Kannst du vielleicht mal woanders hinschauen?“, fragte ich schließlich, weil es mich nervös machte. Er entschuldigte sich, weil er nicht wusste, dass ich es gemerkt hatte, aber sagte dann, dass er meine Mimik so süß fand, während ich das Buch las. Ich las wieder weiter, und dann meinte er, dass mein Cappuccino bestimmt wieder kalt werden würde, und fragte, ob er mir gleich noch einen bestellen solle. Er fragte mich, ob ich vielleicht auch noch ein Buch für ihn hätte, damit ihm nicht so langweilig wäre, oder ob ich mein Buch weglegen könnte, damit wir uns unterhalten könnten. Ich sagte ihm, dass da drüben Zeitungen lägen. Er meinte, dass es doch wesentlich schöner wäre, sich zu unterhalten, als wenn wir beide in ein Buch starren würden. Ich las weiter, dann starrte er mich wieder an. Der machte das absichtlich. Ich blickte ihn etwas genervt an. Wollte der mich ärgern?
„Keine Lust zu reden?“, fragte er dann.
Ich machte mein Buch zu, weil er mich sowieso weiter anstarren würde, damit ich mich nicht mehr konzentrieren konnte. Wir unterhielten uns zwei Stunden und merkten, dass wir viele Gemeinsamkeiten hatten. Wir konnten uns gar nicht trennen. Ich fand ihn sympathisch und er mich auch. Als wir uns verabschiedeten, hoffte ich, dass er mich fragte, ob wir uns wiedersehen sollten, aber er ging erst mal. Ich war etwas enttäuscht, aber als ich ein paar Meter weiterging, kam er noch mal und fragte mich, ob ich mit ihm am Wochenende ins Kino gehen wollte. Natürlich wollte ich. Voll verliebt ging ich nach Hause und sehnte das Wochenende herbei. Genau an dem Tag, an dem wir ins Kino gingen ‒ wir wollten die Spätvorstellung anschauen ‒, da kam Nadim mit Ferry und einer Tussi aus dem Kino. Ferry hatte eine Neue, und Nadim? Unsere Blicke trafen sich, und er lächelte mich an. Es gab mir einen Stich ins Herz, weil ich dieses Lächeln, bei dem ich dahinschmolz, wahrscheinlich nie mehr sehen konnte. Wehmütig sah ich ihm hinterher. Er blickte noch einmal zurück, als ginge es ihm genauso. Am liebsten wäre ich ihm nachgerannt, aber natürlich tat ich es nicht, sondern ging mit Thomas ins Kino, weil ich ihn nicht enttäuschen wollte. Im Kino stellte ich mir die Situation vor, dass Thomas nicht dabei gewesen wäre. Vielleicht war es besser so, wäre bestimmt nur Leidenschaft gewesen. Ich versuchte, Nadim zu vergessen und mich auf Thomas zu konzentrieren. Der Film und Thomas lenkten mich auch ab, weil er die ganze Zeit meinen Arm streichelte. Ab diesem Tag waren wir jeden Tag zusammen. Ich hoffte, durch ihn Nadim vergessen zu können. Ich verzichtete sogar auf mein Kunststudium, weil er meinte, dass ich lieber ein bisschen was dazuverdienen sollte. Ich sagte ihm, dass ich beides machen könnte, aber dann meinte er, dass ich keine Zeit mehr für ihn hätte. Er war selbstständiger Grafikdesigner, und ich half ihm oft, denn zeichnen konnte ich ja.
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