Meine Eltern waren unterwegs, und ich traf mich mit Nadim in der Stadt. Es war zwanzig Uhr, und meine Eltern kamen bestimmt erst um halb elf nach Hause, also hatten wir noch Zeit. Nadim fragte mich, ob ich auch Hunger hätte, und ich hatte Hunger, da ich noch nichts zu Abend gegessen hatte. Ich freute mich auf ein romantisches Essen.
„Ich kenne ein gutes Lokal“, meinte er. „Da war ich schon mit Ferry.“
„Ok, gehen wir hin“, sagte ich.
„Es ist ein bisschen weiter weg, so zwanzig Kilometer“, meinte er.
„Ach so, wie kommen wir dahin?“
„Wir stoppen.“
„Ok“
Mit Nadim hatte ich keine Angst zu stoppen, alleine wäre mir schon mulmig gewesen. Ich meine, man wusste ja nie, mit wem man da mitfuhr.
Wir hielten eine Viertelstunde den Daumen heraus, dann hielt endlich ein Auto. Es waren zwei junge Typen darin. Na ja, irgendwie war mir doch mulmig.
„Komm“, sagte Nadim.
Wir stiegen ein, und die Typen fuhren los. Der Typ fuhr ganz schön schnell, überholte gleich ein paar Autos, was nicht ungefährlich war.
„Kannst du vielleicht etwas langsamer fahren?“, fragte ich, weil meine Hände schon feucht wurden.
„Wieso?“, meinte der Typ und legte noch einen Zahn mehr zu.
Nadim blickte mich an und hielt meine Hand.
„Na, was habt ihr denn vor?“, fragte der Typ.
„Wir besuchen jemanden“, sagte ich.
„Lasst uns doch einen draufmachen“, meinte der Typ.
„Nein“, meinte Nadim. „Wir haben was vor.“
Der auf dem Beifahrersitz grinste mich an.
„Was hast du denn für ein Gestell auf der Nase?“, fragte er.
„Das ist die neue Brille von Ray-Ban“, konterte ich.
War mir klar, dass man wieder eine blöde Bemerkung über meine Brille machen musste.
„Wir haben gutes Zeug zum Rauchen dabei“, meinte der andere. „Vielleicht siehst du dann besser.“
„Wir rauchen nicht“, meinte Nadim.
„Dann müsst ihr es mal probieren“, meinte der andere wieder.
„Wir haben keine Lust“, sagte ich.
Der auf dem Beifahrersitz drehte einen Joint und zündete ihn an. Er nahm zwei kräftige Züge und gab ihn dann dem Fahrer. Die waren komplett verrückt, dachte ich mir. Der Fahrer gab ihn wieder dem Beifahrer, der ihn nach hinten hielt.
„Dann geht es euch besser, ihr seht so angespannt aus“, meinte der Fahrer und blickte in den Rückspiegel.
Nadim überlegte und nahm den Joint. Er nahm einen Zug und gab ihn mir. Ich überlegte und dachte mir, na, ein Zug konnte nicht schaden, vielleicht würde ich dann lockerer. Ich zog etwas zu heftig daran und bekam gleich einen Hustenanfall. Dann gab ich den Joint wieder nach vorne. Als der Beifahrer ihn uns wieder nach hinten gab, lehnte ich dankend ab. Dieses Zeug verwirrte mich. Ich wollte so schnell wie möglich wieder aus dem Auto hinaus. Bekam ich jetzt einen Horrortrip? Nein, beruhige dich, sagte ich zu mir selber. Wir sind ja gleich da. Nadim saß ganz locker und entspannt da. Wie konnte er nur so locker und entspannt dasitzen? Wir hatten noch fünf Kilometer, die mir vorkamen wie hundert Kilometer, und ich hoffte, dass wir heil ankamen. Wir rasten die letzten fünf Kilometer weiter, und jedes Mal, wenn der Fahrer ein Auto überholte, sah ich mich schon an einem Baum kleben. Als wir endlich da waren, gab uns der Beifahrer noch seine Telefonnummer und meinte, wenn wir mal was bräuchten, dann sollten wir ihn anrufen.
Der Fahrer hielt so einen Brocken vor uns hin.
„Fünfzig Mark“, meinte er.
„Wir haben nicht so viel Geld dabei“, meinte Nadim.
Ein Dealer auch noch, dachte ich mir. Der wollte uns wohl abhängig machen. Jetzt reichte es, ich wollte hinaus. Ich brauchte dringend frische Luft, denn das ganze Auto stank nach dem Zeug. Man wurde ja schon von der Luft high. Wieso war Nadim so gelassen?
Der Beifahrer brach das Stück durch.
„Zwanzig Mark“, meinte er.
Nadim zog zwanzig Mark aus der Tasche, nahm das Stück und gab das Geld den Typen.
Ich war stinksauer, machte die Tür auf und stieg aus. Nadim wechselte noch ein paar Worte mit den Typen und stieg auch aus. Die Typen rauschten endlich ab. Ich stellte mir vor, wie ich alleine mit diesen Typen mitgefahren wäre. Alle möglichen Horrorvisionen stiegen mir in den Kopf.
„Wieso hast du das gekauft?“, fragte ich Nadim.
„Damit sie Ruhe geben“, meinte er.
„Du hättest auch Nein sagen können.“
„Hast du dieses Zeug schon mal geraucht?“, fragte ich.
„Ja, mit Ferry.“
Darum war er so gelassen gewesen. Ich konnte es nicht glauben.
„Schmeiß dieses Zeug weg“, sagte ich.
„Ich schenke es Ferry, keine Sorge.“
Wir gingen in das Lokal, und ich versuchte, mich zu entspannen, aber es funktionierte nicht. Irgendwie war ich total nervös. Also dieses Zeug brauchte ich nicht. Wahrscheinlich wirkte es bei mir anders. Als wir die Speisekarte studierten, denn langsam hatte ich einen Bärenhunger, ging die Tür auf, und meine Mutter stand plötzlich da. Ich dachte zuerst, das käme von dem Zeug, dass ich jetzt noch meine Mutter sah, aber sie stand tatsächlich da. Wutentbrannt kam sie auf uns zu. Sie sah aus wie Nadims Mutter. Jetzt hatte ich schon zwei Monster, die mich auffressen wollten.
„Du bist wohl komplett verrückt zu stoppen!“, meinte sie. „Was machst du überhaupt hier?“
„Wir wollten nur essen gehen“, sagte ich erschrocken.
Nadim war es auch peinlich, und mir noch zehntausendmal mehr.
„Wo hast du uns gesehen?“, fragte ich aufgeregt.
„Ich habe euch gesehen, wie ihr in das Auto eingestiegen seid“, meinte sie. „Der, mit dem ihr mitgefahren seid, fuhr ja wie der Henker.“
Wie war sie uns hinterhergekommen?, fragte ich mich. Aber bei meiner Mutter war alles möglich, wenn sie etwas erreichen wollte.
„Du kommst jetzt sofort mit“, meinte sie.
Die anderen Gäste blickten schon zu uns. Es war einfach nur noch peinlich. Fehlte nur noch, dass sie mich an den Haaren hinauszog. Sie packte meinen Arm und zog mich hoch, nahm mich am Arm und führte mich hinaus wie eine Verbrecherin. Nadim saß verdattert da, und ich konnte so schnell gar nicht schauen, wie ich draußen war. Ich konnte ihn doch jetzt nicht alleine lassen, dachte ich mir.
„Wir müssen Nadim mitnehmen“, sagte ich.
„Den nehme ich sicher nicht mit“, meinte sie.
Das war echt ein Horrorabend, dachte ich mir. Ich redete kein Wort mit ihr auf der Fahrt. Die spann wohl, mich in so eine peinliche Situation zu bringen!
„Wie konntest du mich nur so enttäuschen?“, meinte sie. „Ich habe dir gesagt, dass er nichts für dich ist.“
Ich bekam zwei Wochen Hausarrest und musste ihr versprechen, dass ich nichts mehr mit Nadim machte, sonst ließe sie mich gar nicht mehr hinaus. Ich versprach es ihr, aber ob ich dieses Versprechen halten würde, war eine andere Sache. Ich wollte nicht eingesperrt sein, also musste ich es versprechen. Wie konnte ich ein schlechtes Gewissen haben, bei dem Jungen, den ich liebte? Das Einzige, was mir Sorgen machte, war, dass er dieses Zeug rauchte. In den nächsten Tagen hatte ich es wirklich versucht, ihm zu widerstehen, und wurde etwas zurückhaltender, was er gar nicht verstand. Vielleicht hatte ja meine Mutter doch recht, aber mein Herz sprach andere Worte. Er war richtig traurig, als ich versuchte, ihn zu ignorieren. Er tat mir leid und mein Herz mir auch. Nadim musste auch noch an diesem Abend, an dem wir essen gingen, an einem Kinderspielplatz übernachten, weil ihn keiner mehr mitnahm und seine Eltern ein paar Tage bei Verwandten waren. Am nächsten Tag nahm ihn eine alte Oma mit, die ihm seine Lebensgeschichte erzählte.
Ich erzählte ihm den Grund, warum ich so distanziert war: weil ich es selbst nicht mehr aushielt. Und er meinte, dass seine Eltern genauso wären, aber es ihm egal wäre, denn er liebte mich, und das wäre stärker. Mir ging es genauso, und ich war froh, wieder mit ihm zu verkehren. Mir ging es gleich viel besser. Wir mussten bloß besser aufpassen, damit unsere Eltern uns nicht ertappten, aber wenn ich ihn aufgab, gab ich mich auf, und das konnte meine Mutter nicht verlangen. Ich versuchte, zu Hause gegen ihn zu reden, und das beruhigte meine Mutter.
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