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Ich war fünfzehn, als er mich mit dem Rad entführte. Es war ein Samstag, meine Eltern waren eingeladen. Eigentlich wollte ich, dass er zu mir kam, aber Nadim meinte, dass es zu gefährlich wäre, wenn sie vielleicht doch eher nach Hause kämen, und wir hätten dann nicht die richtige Ruhe. Er wüsste etwas anderes, wo wir ungestört wären. Ich sollte eigentlich auch mit meinem Rad kommen, aber das hatten sie mir zwei Tage vorher geklaut. Meine Mutter meinte nur, dass ich auf meine Sachen nicht aufpassen könnte. Sie kaufte mir kein neues. Also setzte ich mich auf die Lenkradstange. Wir erforschten immer die Gegend, und diesmal fuhren wir wieder in die Natur. Nach einer halben Stunde machten wir die erste Pause, weil mir der Hintern etwas wehtat. Dann fuhren wir weiter. Bei der nächsten Pause machten wir ein Picknick, weil Nadim Proviant mitgenommen hatte. Wir setzten uns in eine Butterblumenwiese und genossen den Tag. Danach legten wir uns nebeneinander in die Butterblumen und träumten von unserer Zukunft. Er hielt meine Hand, und ich fühlte mich eins mit ihm. Wir hatten gar nicht gemerkt, dass eine dicke Wolke auf einmal über uns war. Es fing zu regnen an. Die Sonne schien, und es regnete. Wir blickten fasziniert zu dem Regenbogen, bis er fast weg war. Danach fuhren wir wieder weiter, bis wir in die Nähe von Omas Haus kamen. Er blieb vor einem umgebauten Bauernhaus stehen.
„Was machen wir hier?“, fragte ich.
„Lass dich überraschen.“
Er sperrte mit einem Schlüssel das Haus auf.
„Wem gehört das?“, fragte ich.
„Der Tante von Ferrys Freundin. Sie ist in Frankreich. Ihre Mutter hat den Ersatzschlüssel. Ferry war mit seiner Freundin auch schon hier, weil sie dieselben Probleme haben.“
„Wir können doch nicht einfach in ein fremdes Haus gehen.“
„Keine Angst. Es passiert schon nichts.“
Etwas mulmig war mir schon, aber wir konnten endlich mal ungestört sein, und in seiner Nähe hatte ich keine Angst. Es war ein schönes Haus, und ich fühlte mich gleich wohl. Es war gemütlich und individuell eingerichtet. Über der Couch hing ein großes Acrylbild, das mich faszinierte. Eine nackte Frau und ein nackter Mann, die ineinander verschmolzen.
Nadim nahm mich in den Arm, als er merkte, dass ich das Bild ansah.
„Machen wir auch Symbiose?“, fragte er. „Hatten wir erst in Bio.“
Mir wurde ganz heiß bei seinen Worten, und ich musste erst mal dringend pinkeln, sonst würde ich in die Hose machen. Ich suchte das Bad und plätscherte wie eine Kuh ins Becken. Die große Badewanne lud zum Baden ein. Nadim ließ das Badewasser ein, machte eine Kerze an, und wir planschten herum wie die kleinen Kinder. Ich kam mir vor wie Gott in Frankreich. So wollte ich später auch mal leben, und das mit ihm. Als das Wasser schon fast wieder kalt war, stiegen wir heraus und wickelten uns in Handtücher ein. Nadim zog mich mit ins Wohnzimmer auf die große Ledercouch. Er nahm meine Brille vorsichtig ab und küsste mich auf die Stirn.
„Du bist schön“, sagte er.
„Du auch“, sagte ich und blickte in seine warmen braunen Augen, die mich anzogen wie ein Magnet.
Er streichelte mich sanft und zärtlich. Jede Berührung elektrisierte mich. Dann küsste er mich, zuerst zaghaft, dann leidenschaftlich. Ein dicker, großer goldener Buddha sah mich lächelnd an. Er strahlte Ruhe aus, aber es kam mir vor, als beobachtete er uns.
„Was ist?“, fragte Nadim, weil ich dauernd auf den Buddha blickte.
„Der beobachtet uns.“
Nadim lächelte, stand auf und legte das Handtuch über seinen Kopf. Nackt, mit erigiertem Glied, stand er vor mir. Ich wusste, was jetzt geschah, dass er in mich eindrang, damit ich ihn ganz tief spüren konnte. Ich wollte es. Ich wünschte es mir so sehr.
„Nimm bitte dein Handtuch weg“, sagte er. „Ich möchte dich ansehen.“
Seine Augen strahlten in dem Moment so viel Liebe aus, dass ich ihn am liebsten aufgefressen hätte.
Als ich es wegnehmen wollte, drehte sich auf einmal der Schlüssel in der Tür, und ein Mann, der nicht gerade sympathisch aussah, stand in der Tür mit seinem Hund. Wie von der Tarantel gestochen, sprang ich auf. Nadim nahm das Handtuch von Buddhas Kopf weg und legte es sich um.
„Was macht ihr hier?“, fragte der Typ. „Ihr zwei seid doch noch viel zu jung für das, was ihr da machen wollt. Verdorbene Jugend.“
„Was machen Sie hier?“, fragte Nadim und ging gar nicht auf ihn ein.
Es war sowieso alles peinlich genug, und ich schämte mich total.
„Ich bin ein Nachbar und sehe ab und zu nach dem Rechten, wenn die Hausherrin nicht da ist.“
Nadim holte unsere Klamotten.
„Drehen Sie sich bitte um. Wir müssen uns anziehen.“
Wir zogen uns schnell an. Der Hund, ein Boxer, sah genauso misstrauisch zu uns. Ich liebte zwar Hunde, aber der sah nicht gerade so aus, als könnte man zu ihm hingehen und ihn streicheln. Ich dachte, das sollte ich lieber sein lassen.
„Was macht ihr hier?“, fragte der Typ noch einmal.
„Wir sind Verwandte“, sagte Nadim.
„Davon hat mir Sabine gar nichts erzählt.“
„Hat sie vielleicht vergessen.“
Der Typ blickte misstrauisch zu uns. Er sah sich überall um, weil er uns nicht traute. Nadim nahm im Augenblick der Unaufmerksamkeit des Mannes meine Hand und rannte mit mir hinaus. Wir schwangen uns aufs Rad und fuhren los wie Bonnie und Clyde, die auf der Flucht waren. Der Hund lief uns nach, und der Typ schrie noch hinterher, dass er die Polizei anrufen würde. Nadim gab dem Hund mit seinem Fuß einen Tritt mit, dass er sich fast überschlug. Davor schien er Respekt zu haben, denn er rannte zurück zu seinem Herrchen.
„Gerade noch mal gut gegangen“, meinte Nadim. „Ferry hat gesagt, dass da einer ab und zu nachschaut, wenn die Eltern von Ferrys Freundin keine Zeit haben, aber dass es gerade jetzt kommen musste …“
Vielleicht war es besser so, dachte ich mir, weil ich wahrscheinlich sonst noch schwanger geworden wäre. Ich nahm keine Pille. Vielleicht hatte der Buddha doch auf uns aufgepasst.
Die Abendsonne tränkte die Landschaft in ein kitschig goldenes Licht. Als wir die Stadt erreichten, machten wir eine kurze Pause, weil mir wieder der Hintern wehtat. Die beleuchtete Stadt lag vor und die Natur hinter uns. Die Sonne küsste die Nacht, und Nadim küsste mich.
„Ich liebe dich“, sagte er.
„Ich liebe dich auch.“
Nadim fuhr mich nach Hause. Am liebsten hätte ich ihn mitgenommen, aber dafür war es schon zu spät, weil meine Eltern bestimmt bald kommen würden. Wir verabschiedeten uns wehmütig. Ich wusste nicht, dass ich ihn für lange Zeit nicht mehr sehen würde. Hätte ich es geahnt, hätte ich ihn mitgenommen und noch jeden Augenblick ausgekostet. Am nächsten Tag kam nämlich die Polizei zu uns. In der Eile musste Nadim beim Anziehen der Geldbeutel herausgefallen sein. Der Typ hatte die Tante von Ferrys Freundin angerufen, und die hatte natürlich gesagt, dass sie uns nicht kenne. Die Polizei meinte, dass wir eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch bekommen könnten. Sie meinte, dass wir Glück hatten, dass nichts gestohlen war. Nadims Vater war so sauer, dass er ihm eine Ohrfeige verpasste und er in die nächste Ecke flog, und meine Mutter gab mir zwei Wochen Hausarrest. Ferrys Freundin bekam ebenfalls Schwierigkeiten, weil sie uns den Schlüssel gegeben hatte. Da saßen wir ja alle schön in der Scheiße. Meine Mutter war so sauer, dass sie gar nicht mehr mit mir redete. Alles, was ich ihr sagte, interessierte sie nicht. Meine einzige Rettung war Oma. Ich erzählte ihr alles. Sie war nicht ganz so begeistert, aber sie hatte Verständnis für uns. Mit der Mutter von der Tante war sie befreundet, und die Tante hatte ihr mal ein Bild abgekauft. Oma malte, und genau das wollte ich später auch machen. Sie meinte, dass sie mit ihr reden würde. Wie klein die Welt doch wieder war, und was für ein Glück ich hatte, dass es Oma gab! Wir bekamen keine Anzeige, weil Oma alles hinbog. Die Tante war zum Glück auch sehr verständnisvoll und tolerant für jugendliche Nöte. Nadim und ich fuhren noch einmal hin und entschuldigten uns mit einem großen Blumenstrauß. Oma schenkte ihr ein Bild, und sie meinte, dass wir unsere Strafe schon bekommen hätten. Sie wusste, dass wir uns nicht mehr sehen durften, weil sich Nadims Eltern auch entschuldigt hatten. Nadim kam auch noch auf eine andere Schule. Das war wirklich die größte Strafe für uns. Das Letzte, was mir Nadim sagte, war, dass er für unsere Liebe kämpfen würde.
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