Mir lief es bei dem Gedanken, meine Wohnung zu betreten, kalt den Rücken hinunter. Doch ein Kopfschütteln könnte mich verdächtig machen. So nickte ich. "Also einverstanden!" sagte er und war's zufrieden. Ich zog die Stirn in Falten und zeigte auf meine Utensilien im Schrank.
"Hm," sagte er, "wir können Ihre Freundin anrufen, oder wollen Sie warten, bis sie Feierabend hat?" Ich nickte. "Sie wollen warten?" versicherte er sich.
Wieder nickte ich.
"Na, dann auf Wiedersehen bis später." sagte er freundlich und ging.
Mir war wirr im Kopf. Kein vernünftiger Gedanke ließ sich festhalten. Das würde ein aufregender Spätnachmittag werden. Angezogen legte ich mich aufs Bett. Kurz bevor gegen elf Uhr das Mittagessen serviert wurde, klopfte es hastig, und hastig wurde die Tür vom Vormüllerchen aufgerissen. "GutenTagEntschuldigung!" rief er. "Sie wollten mir doch Bescheid geben, ob wir gemeinsam zur Konferenz fahren. Ich hörte, Sie werden noch heute entlassen.“
Ich nickte und musste aufpassen, dass meine Miene die abschweifenden Gedanken nicht verriet. Er nahm es für ein Ja zu meinem Auftritt als Versuchskaninchen und verließ zufrieden das Zimmer.
Erstaunlicherweise gelang es mir, die Stockschläge und den leblosen Mann weitgehend aus meinem Denken zu vertreiben und mir stattdessen Angenehmes, zum Beispiel den jungen Holger Vormüller, vorzustellen. Nach dem Mittagessen schlief ich sogar den Schlaf, der gern als Schlaf der Gerechten bezeichnet wird.
Als Karin auf der Bildfläche erschien, war sie bereits von der Stationsschwester informiert worden. Ohne Luft zu holen, fragte sie mich, ob ich schon gepackt hätte und mit zu ihnen kommen wolle. Mir erschien es lächerlich, erst zu nicken und anschließend sofort den Kopf zu schütteln, also sah ich sie einfach an, bis sie begriff.
"Möchtest du, um nicht allein zu sein, die erste Nacht bei uns verbringen?" artikulierte sie beleidigend deutlich. Nun konnte ich den Kopf schütteln. Ich hatte ein Zettelchen vorbereitet, das ich ihr hinhielt.
BITTE, WIE BEKOMME ICH GELD?
LEIDER HABE ICH DEN WOHNUNGSSCHLÜSSEL VERLOREN.
TUT MIR LEID!
stand darauf.
"Wie sieht es denn hier aus?" entfuhr es Karin, nachdem sie die Korridortür mit ihrem Schlüssel geöffnet hatte. Mit meinem Koffer in der Hand stand sie im Flur. Mein Herz klopfte Stakkato. Die Schweißtropfen auf meiner Stirn waren keine Folge des Treppensteigens. Aber das wusste nur ich, und zu sagen brauchte ich - gottseidank - nichts.
Langsam schob ich mich mit Stock und Handtasche in den engen Korridor. "Ich bringe den Koffer gleich ins Schlafzimmer." sagte meine beste Freundin und riss die Wohnzimmertür auf. In den DDR-Zwei-Raum-Wohnungen des Typs, den ich ergattert hatte, geht man vom Flur ins größere und von dort ins kleinere Zimmer.
Ich erwartete einen Schrei, da ich Karin nicht für eine Person halte, die still in Ohnmacht fällt. Statt des entsetzten Ausrufs war jedoch nur meckerndes Gerede zu vernehmen, das mehr als Selbstgespräch zu deuten war denn als Kritik. Zögernd betrat ich das Wohnzimmer und sah ebenfalls nichts. Mein Bettler lag nicht herum. Unordentlich und zerwühlt bot sich die Couch dar. Von einem großen Kissen leuchtete mir ein dunkler Fleck entgegen, den nur ich als getrocknetes Blut erkannte. Das Buffet aus der elterlichen Wohnung, von dem ich mich nicht hatte trennen können, obgleich es überhaupt nicht in die Platte passte, war geöffnet. Herausgezogene Schubladen und offenstehende Türen zeugten davon, dass etwas gesucht worden war.
Karin schüttelte den Kopf. Sie kopierte damit meine Ausdrucksweise. Von mir erwartete sie keinerlei Kommentar zum Chaos. Aber das war mir so egal, wie einem nur etwas egal sein kann! Ich war unendlich erleichtert und dem Mann dankbar, weil er verschwunden war.
Erst viel später am Abend fiel mir ein, dass er meinen Schlüssel besaß. Da erschrak ich doch und überlegte lange, ob ich die Korridortür verbarrikadieren sollte.
Karins Kopfschütteln mündete in der Frage, welcher Teufel mich geritten habe, so in meiner Wohnung zu wüten. Statt einer Antwort bat ich sie schriftlich, mich so bald wie möglich zur Bank zu begleiten.
"Ich komme morgen früh um Acht." versprach sie prompt.
Ich nickte und schob sie freundlich - wie ich meinte -, aber nachdrücklich aus der Tür.
Mein Leben gehört mir, dachte ich und freute mich ausgiebig, niemanden totgeschlagen zu haben.
Die Erleichterung wich allmählich einer Leere. Ich hing auf der Couch herum wie gestern der Betrunkene und fühlte mich unwohl. Zum Fernsehen verspürte ich keine Lust und zum Aufräumen schon gar nicht!
Wenn ich das neue Leben genießen wollte, musste ich es zunächst erkunden und mich über meine Hemmschwellen hinweg ins Vergnügen stürzen.
So etwa lautete das zweite Ehrenwort, das ich mir gab.
Nach unruhiger Nacht und wirren Träumen wartete ich am Morgen - wieder ganz in Schwarz - auf Karin. Sie musterte mich kritisch:
"Wir müssen dir unbedingt Klamotten kaufen. Schwarz steht dir nicht."
Ich schüttelte den Kopf. Dann zeigte ich wie ein kleines Kind mit dem Finger auf mich selbst. Die gute Karin verstand, dass ich allein einkaufen gehen wollte.
Meine Sparkasse hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Verchromt glänzte ein Großraumbüro, verschönt mit mannshohen Grünpflanzen. Computer standen auf eleganten Arbeitstischen, und schusssicheres Glas schützte den Kassierer. Früher fragte mich Frau Müller am Schalter, wie lange sie noch auf Christa Wolfs "Kassandra" aus der Bibliothek warten müsse. Eng war damals der Raum mit den beiden Schaltern wegen der sich windenden Schlangen.
Gefährten im Warten fand ich als Einheimische stets. Ein Wie-geht-es? wurde immer gefragt, und oft genug ergab sich ein Schwätzchen.
Während Karin jetzt alles Notwendige für mich erledigte, stand ich herum und besah die neue Sparkasse. Ich fühlte mich fremd an einer Stelle, die mir viele Jahre vertraut gewesen war. Durch die Glastür sah ich die Automaten im Vorraum. Für Stumme gut geeignet, dachte ich. Eine Tastatur zu bedienen, war eine wortlose Angelegenheit, genau wie der Einkauf im Supermarkt.
Insgesamt nickte ich dreimal, unterschrieb viermal und hatte mit Hilfe meiner Freundin ein Girokonto eingerichtet. In den nächsten Tagen würde ich eine Euroscheckkarte erhalten und eine Geheimnummer, die sich der Mensch zu merken hat. Auf meinem Sparbuch befand sich - wie mir Karin mit gewissem Stolz zeigen ließ - eine erstaunlich hohe Summe. Ich begann, mich wohlhabend zu fühlen.
"Materiell abgesichert." sagte Karin, als habe sie meine Gedanken erraten.
"Du bist materiell abgesichert. Eine Invalidenrente - zwar nicht hoch, aber immerhin - kommt monatlich dazu. Du brauchst dir also keine Gedanken zu machen."
Sie sprach mit Nachdruck, als wäre ich mir erst gestern ans Leben gegangen. Da sie es lautstark äußerte, obwohl ich gut höre, sahen sich die wenigen Kunden nach uns um, und ich errötete wie in alten Tagen, sehr zu meinem Ärger.
Nachdem mir der freundliche Herr an der Kasse zehn Hundertmarkscheine abgezählt hatte, zog ich Karin am Ärmel aus dem Geldinstitut.
"Kann ich dich irgendwo hinbringen?" fragte sie vor ihrem Auto. Ich schüttelte mein Nein und wunderte mich, als sie losschimpfte. Erst dann entdeckte ich das Zettelchen, das man ihr unter den Scheibenwischer geklemmt hatte. "Verdammt!" schimpfte Karin. "Schon wieder!"
Mit einem "Bis später! TschüsundallesGute!" fuhr sie wütend davon. Ich blieb auf dem Gehweg stehen und versuchte herauszufinden, warum sie einen Strafzettel erhalten hatte.
Es dauerte eine Weile, bis ich die Kästen richtig zuordnete, an denen man Tickets ziehen und bezahlen muss. Das Gefühl der Fremdheit nistete sich merkbar in meiner Magengegend ein. Dabei wusste ich genau, dass ich Angst nicht zulassen durfte. Nie wieder wollte ich in schwarze Löcher fallen und mich in finstere Ecken verkriechen.
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