Jessie fühlte sich leicht überrumpelt, denn sie hatte gar nicht damit gerechnet. Ein kurzes Angrunzen durch die Tür war es, was sie erwartet hatte. Zögernd betrat sie Forsythes Wohnung. Im Flur war es ziemlich dunkel und es roch nach Zigaretten. Aber es war alles ordentlich, sauber und aufgeräumt.
»Kommen Sie in die Küche«, sagte der Mann und deutete auf eine Tür auf der rechten Seite.
Die Küchenzeile erinnerte Jessie an die siebziger Jahre; und aus dieser Zeit stammte sie wohl auch: Sie war komplett in orange gehalten, mit silbernen, türbreiten Edelstahlleisten als Griffen. Der Raum war freundlich hell erleuchtet; die Sonne schien durch das schmale Fenster herein und bahnte sich ihren Weg vorbei an einer einzelnen Topfpflanze, einem offenbar nur mäßig gegossenen Elefantenfuß.
Mister Forsythe trat an den kleinen Esstisch an der Wand und deutete ihr, sich zu setzen.
»Wollen Sie ein Wasser oder so?«, fragte er brummend mit der Zigarette im Mundwinkel.
Jessie lächelte freundlich, verneinte, stellte ihre Sporttasche auf den Boden und nahm Platz.
Ihr Nachbar zog es vor, stehen zu bleiben und lehnte sich gegen die Spüle.
»Habe ich Sie neulich nervös gemacht?«, fragte er und grinste verstohlen.
Das Ziehen in Jessies Magen wurde intensiver. »Ein wenig«, sagte sie und faltete die Hände in ihrem Schoß.
»Das tut mir leid. Aber nachdem, was man so liest, wären Sie genau das richtige Opfer für den Ealing Strangler.«
»Eigentlich bin ich hier, um mit Ihnen über Mister Loomis zu sprechen«, sagte Jessie. Sie spürte, wie rau ihre Stimme klang.
Forsythe verzog das Gesicht. »Loomis? Ihr Vormieter?«, fragte er und nahm einen tiefen Lungenzug von seiner Zigarette. »Der ist verschwunden.«
»Ach, wirklich? Ich hatte gehört, er sei ausgezogen?«
Ihr Gegenüber lachte und bekam einen Hustenanfall. »Klar, ausgezogen. Und lässt sein ganzes Eigentum zurück? Wer hat Ihnen denn so einen Blödsinn erzählt?«
Jessie schluckte, bevor sie antwortete: »Robin… Mister Gibb.«
»Gibb aus Nummer vier?« Er hielt den Stummel seiner Zigarette unter den Wasserhahn und drehte ihn für einen kurzen Moment auf. Dabei schüttelte er den Kopf. »Der spinnt wohl? Jeder hier im Haus weiß, dass Loomis von einem Tag auf den anderen verschwunden ist.«
»Warum sollte Robin mich anlügen? Oder hat er das damals nur nicht mitbekommen? Aber er hat Loomis doch gekannt.«
»Was interessiert Sie so an diesem Loomis? Seien Sie doch froh, dass er weg ist! Sonst hätten Sie die Wohnung nicht gekriegt.«
»Hm«, brummte Jessie unzufrieden.
»Gefällt es Ihnen denn hier im Haus?«, fragte Forsythe dann, erstaunlich freundlich.
»Ja, eigentlich schon. Die Nachbarn sind sehr nett.«
»Außer mir, natürlich« grunze er lachend.
Jessie blieb ernst. »Wieso? Sie sind doch auch okay.«
Ihr Gegenüber verzog skeptisch das Gesicht. »Ach kommen Sie, ich habe meinen Ruf als Griesgram und Einsiedler weg hier in der neunundsiebzig.«
»Aber wieso? Ich habe das Gefühl, Sie wollen nur, das alle das über Sie denken.«
Forsythe nahm am Tisch Platz, gegenüber von Jessie. Er warf den nassen Zigarettenstummel in den Drehaschebecher und drückte den Knopf. Während die Scheibe rotierte, sagte er anerkennend: »
Sie sind nicht dumm, Kindchen.«
»Danke. Und Sie auch nicht.« Sie hatte das Gefühl, dass der Eindruck, den die anderen von ihm hatten oder den sie ihr zumindest von ihm vermitteln wollten, falsch war. Mister Forsythe war vielleicht ein einsamer Mann, dem es aufgrund mangelnder Gesellschaft ein wenig an sozialer Kompetenz fehlte. Aber wenn sie sich in seiner ordentlich aufgeräumten und blitzsauberen Küche umsah und ihn reden hörte, glaubte sie nicht, dass er ein gefährlicher Irrer war. Sie hatte an sich eine recht gute Menschenkenntnis.
Forsythe holte direkt eine weitere Zigarette aus dem Päckchen auf dem Tisch und zündete sie an. Er hielt ihr die Schachtel hin.
»Sie auch?«
Jessie winkte dankend ab. »Ich rauche nicht. Hab nie angefangen.«
Forsythe nickte. »Sieht man Ihnen an. Ganz glatte Haut. Wie ein Babypopo.«
Sie rang sich ein Lächeln ab.
Der Mann hob entschuldigend die Hand. »Oh, das war natürlich nicht gerade die feine Art, Ihnen ein Kompliment zu machen. Ich bin schon lange aus der Übung.«
»Schon gut«, sagte Jessie und lächelte nun unverkrampfter. »Sie leben hier alleine?«
Er nickte. »Ja. Seit, ach Gott, schon seit über zehn Jahren. Nachdem meine Frau gestorben war, fühlte ich mich in der alten Wohnung total verloren. Sie war viel zu groß. Unser jüngster Sohn war ja auch schon längst ausgezogen.«
Jessies Blick fiel auf einen kleinen ovalen Bilderrahmen an der Wand, direkt neben einem Kalender des vorletzten Jahres. In ihm war ein Foto eines Jungen um die zwölf Jahre zu sehen, der einen Fußball hielt. Trikot und Hose waren mit Schlamm bespritzt. Die Farben des Fotos waren ziemlich verblasst; es war wohl eine ältere Aufnahme, die täglich dem Sonnenlicht, das durch das Küchenfenster fiel, ausgesetzt war.
»Ist er das?«, fragte sie und deutete auf das Bild.
Forsythes Blick blieb daran haften. »Ja, das ist Chris«, sagte er und seufzte schwer.
»Was macht Ihr Sohn so?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Lassen Sie uns nicht über Chris reden! Das macht mich immer nur wütend.«
»Oh, Entschuldigung«, entgegnete Jessie. In welches Fettnäpfchen war sie da reingetreten?
Er betrachtete wehmütig weiter das Foto. »Damals war die Welt noch in Ordnung.«
»Was ist passiert?« Sie biss sich auf die Lippen. »Hast du nicht gehört, was er gesagt hat?«
Forsythe sah Jessie kurz an und dann wieder zum Bild seines Sohnes. »Er ist vom rechten Weg abgekommen, wie man so schön sagt. Der dumme Bengel.«
Jessie erwiderte nichts; noch mehr nachbohren wollte sie nicht. Aber Mister Forsythe fuhr von selbst fort:
»Die ganze Scheiße mit ihm fing an, als meine Colleen, seine Mutter, an Krebs starb. Danach habe ich ihn nicht wiedererkannt. Er wurde aufsässig und unberechenbar. Irgendwann kam er dann mit der Polizei in Konflikt. Mit so was wie Mutproben ging es los. Er ist, als er siebzehn war, mehrfach bei Leuten eingestiegen. Nicht um was zu klauen; einfach so, weil er es wollte. Aus Langeweile, hat er gesagt. Hat sich von seinen so genannten Freunden anstacheln lassen.«
»Oh«, sagte Jessie nur und sah betroffen auf die Tischplatte. »Und ich dachte, ich wäre schlimm gewesen.« Jessies Jugendsünden hatten sich jedoch darauf beschränkt, mit ihrer Clique Alkohol zu trinken und einfachen Unsinn zu treiben. Das ärgste, das sie sich selbst dabei einmal geleistet hatte, war, in der Schultoilette eine Rolle Toilettenpapier anzuzünden.
»Natürlich ist er erwischt worden und musste Sozialstunden leisten«, fuhr der Mann fort und räusperte sich. »Und mit neunzehn hat er dann ein Mädchen vergewaltigt.«
»Oh, Scheiße!« Jessies Augen weiteten sich und sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Sorry.«
Doch Forsythe nickte nur zustimmend. »Das war auch das erste, das mir in den Sinn kam, als sie mich damals aufs Polizeirevier bestellt hatten.«
»Sitzt Chris im Gefängnis?«, fragte Jessie vorsichtig.
»Nein, nicht mehr. Er wurde vor zwei Monaten entlassen.« Ein trockenes Lachen entrann seiner Kehle. »Sie können jetzt vielleicht verstehen, dass ich nicht gerade ein Bündel an guter Laune bin, seit ich weiß, dass ich einen Sexualstraftäter zum Sohn habe.«
Jessie starrte betroffen ins Leere. Sie konnte nichts sagen, begriff aber jetzt etwas besser, warum Mister Forsythe war, wie er war.
Die Glut an seiner Zigarette leuchtete, als er einen kräftigen Zug nahm.
»Wo ist ihr Sohn jetzt?«, fragte sie.
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