Warum war die Welt nur so gemein zu Mila? Was hatte sie verbrochen? Sie wollte sich doch einfach nur schön fühlen.
Zum Glück hatte sie jemanden an ihrer Seite; jemanden, der sie so liebte, wie sie war. Aber auch die regelmäßigen Beteuerungen, dass sie doch sehr hübsch sei und die mittlerweile äußerst überstrapazierte Phrase ›Ich liebe dich, so wie du bist‹, waren ihr kein Trost. Es waren nur die kleinen Aufmunterungen der letzten Wochen, die kleine Lichtblitzte in der ewigen Dunkelheit ihrer verkorksten Seele erzeugten.
Mila beendete ihr Ritual der Selbstqual, schloss die Flügel ihres ganz persönlichen Folterinstruments und zog sich an. Sie verhüllte ihren hässlichen Körper. Wäre sie eine strenggläubige Muslimin, hätte sie wenigstens noch ihr Gesicht bedecken können. Doch stattdessen musste sie es jeden Tag, wie eine Jahrmarktsattraktion, zur Schau tragen. Während sie ihre Halskette mit dem Anhänger umlegte, der ihr so viel bedeutete und ihr die nötige Kraft für jeden neuen Tag gab, erhielt sie einen sanften Kuss in den Nacken. Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht und sie schloss die Augen.
Ein ›Ich liebe dich‹ wurde ihr ins Ohr gehaucht und dann spürte sie, wie sie von hinten umschlungen wurde. Sie ergriff die starken, beschützenden Arme und hielt sie ganz fest.
»Danke«, sagte Mila nur.
»Ich weiß doch genau, was in dir vorgeht. Ich sehe es in deinen Augen.«
Mila fuhr herum. Tränen sammelten sich gerade in ihren Augenwinkeln, um gleich wie Sturzbäche über ihr Gesicht zu laufen.
»Es tut mir so leid«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich bin so undankbar, oder?«
Sie erhielt einen leidenschaftlichen Kuss.
»Nein. Und es braucht dir nicht Leid zu tun. Du bist, wie du bist. Und so will ich dich. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Erneut küssten sie sich.
Mila fühlte sich besser. Für heute. Morgen würde alles wieder von vorne beginnen.
Der Coffeeshop war brechend voll, die Schlange an der Bestellannahme lang. Es waren überwiegend Leute im Businessdress, die hier vor Arbeitsantritt frühstückten oder sich nur eine der vielen Kaffeespezialitäten für unterwegs holten.
»Oje, vielleicht suchen wir uns lieber einen anderen Laden?«, meine Jessie, deren Magen sich nach etwas zu Essen sehnte.
Robin blieb gelassen. »Keine Angst, das geht immer recht schnell hier.«
Er deutete ihr, einen Schritt nach vorne zu machen, um aufzuschließen.
»Ich freue mich ja, dass du morgens auch zu faul bist, dir selbst Frühstück zu machen«, sagte Jessie und hakte sich bei ihm ein.
Er lachte. »Dafür hat man ja diese Läden hier erfunden.« Dann sah er auf seine Armbanduhr.
»Wann fangt ihr morgens an?«, wollte sie von ihm wissen und sah selbst auf ihre Uhr. Es war viertel vor acht.
»Um halb neun. Naja, ich fange dann an. Dean schafft es meistens nicht, pünktlich zu sein.«
Das wunderte Jessie nicht. »Dann haben wir ja wenigstens noch eine halbe Stunde.«
Jetzt waren sie an der Reihe.
»Einen normalen Bagel mit Schinken bitte und einen Vollkorn mit Frischkäse. Außerdem zwei Latte Macchiato. Alles für hier.«
»Da hat aber einer gut aufgepasst« , dache Jessie.
Sie nahmen ihre Bestellung auf einem Tablett entgegen und setzten sich an den letzten freien Tisch im Lokal. Das Wasser lief Jessie im Mund zusammen. Der erste Biss in den knackigen, frisch belegten Bagel kam einer Erlösung gleich. Sie gab ein leises, zufriedenes Brummen von sich.
Einen Moment lang saßen sie schweigend da und aßen.
»Sag mal, dieser Typ, Loomis«, sagte Jessie dann mit halb vollem Mund.
Robin sah auf. »Was ist mit dem?«
»Kanntest du ihn?«
»Nicht sonderlich. War ein Eigenbrötler.«
»Was hat er so gemacht?«
Er zuckte mit den Schultern. »War IT-Spezialist, soweit ich weiß.«
Jessie sah gedankenversunken aus dem Fenster. »Was wohl mit ihm passiert ist?«
Robins Stirn legte sich in Falten. »Wie meinst du das?«
»Mila hat mir erzählt, er wäre plötzlich einfach verschwunden.«
»Wie verschwunden?«
»Na, eben verschwunden. Er wäre einfach weg, hätte alles stehen und liegen lassen.«
Robin verzog skeptisch das Gesicht. »Quatsch. Der ist ausgezogen.«
»Hm.« Das hatte ihr die neue Nachbarin anders erzählt und es hatte eigentlich glaubhaft geklungen. Warum hätte sie auch lügen sollen? Oder waren es doch wieder nur Gerüchte um mehrere Ecken, insbesondere die um Mrs Brixton, gewesen?
Aber warum stand dann der Name Loomis auf einem Zettel an Robins Kühlschrank?
Eine Wolke am Himmel schob sich etwas nach links und befreite die Sonne. Ihre warmen Strahlen trafen durch das Fenster des Coffeeshops auf Jessies Gesicht. Sie schloss die Augen und genoss für einen Moment diese Wohltat. Über ihren Vormieter wollte sie sich jetzt keine Gedanken machen. Sie saß hier mit dem heißesten Typen, den sie je kennengelernt hatte, mit dem sie Sex gehabt hatte und der jetzt, beim Frühstück, noch immer da war.
»Wollen wir Samstagabend ins Kino gehen?«, fragte er.
»Klingt gut. Was läuft denn?«
»Im Empire zeigen sie ›Frenzy‹.«
Jessie überlegte, dann schüttelte sie den Kopf. »Kenn ich nicht.«
»Ein Spätwerk von Hitchcock. Spielt hier in London.«
»Aha.« Jessie hatte in ihrem Leben bisher nur einen Film von Alfred Hitchcock gesehen und das war ›Psycho‹.
»Stimmt nicht mal. War ja das Remake mit dieser Lesbe. Wie hieß sie noch?«
»Also, was meinst du?«, bohrte Robin nach. Seine nussbraunen Augen strahlten sie an.
In diesem Moment hätte sie sich sogar zu einem Bungee-Sprung überreden lassen.
»Bin dabei«, sagte sie und lächelte ihn mit diesem Ich-bin-verknallt-bis-über-beide-Ohren-Lächeln an, das sie selbst als peinlich empfand, es aber auch nicht verhindern konnte.
Nachdem sie fertig waren, verließen sie den Laden. Draußen vor der Tür blieben sie stehen und sahen sich an.
»So, ich muss dann jetzt mal Geld verdienen gehen. Was machst du?«, fragte Robin.
Jessie trat von einem Fuß auf den anderen. Zu dem, was sie jetzt am liebsten gemacht hätte, hätte sie Robin gebraucht. Aber er hatte ihr ja gerade schon unbewusst eine Abfuhr erteilt.
»Ich werde mir mal die Gegend hier anschauen«, sagte sie stattdessen. »Muss mich ja schließlich auskennen, wenn mich mal einer nach dem Weg fragt oder so.«
Sie gaben sich einen Kuss. Erst zaghaft, dann doch recht ungezügelt. Ein Kribbeln wie von einem Stromschlag durchfuhr Jessies Körper.
»Dann bis später.«
»Ciao!« Er winkte ihr, bereits davon schlendernd, zu.
Jessie entschied sich, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Sie spazierte den Bürgersteig entlang, vorbei an allerlei geschäftigen Menschen, die anscheinend ganz schnell irgendwo hin mussten: Männer in Anzügen und mit Aktenkoffern; Frauen mit Kindern an der einen und Einkaufstüten in der anderen Hand; ein paar Kids, die wie Rowdies aussahen, laut rumalberten und auf den Gehweg spuckten. Sie kam an mehreren kleinen Geschäften vorbei: einem weiteren Coffeeshop, einer libanesischen Bäckerei, einer Schuhreparatur mit Schlüsseldienst und einem Kiosk. Vor letzterem blieb sie stehen und las die Schlagzeilen der dort im Ständer ausgestellten Tageszeitungen. Weltgeschehen bestimmte die meisten Nachrichten; Unruhen im Nahen Osten, Handelsabkommen mit den USA, eine Flutkatastrophe in Thailand. Die Sun hingegen schien an dem lokalen Phänomen des Frauenmörders zu kleben. Jessie nahm die Zeitung aus dem Ständer, um die Überschrift ganz lesen zu können:
SCOTLAND YARD WEITER RATLOS –
WER WIRD DAS NÄCHSTE OPFER DES EALING-STRANGLERS?
Jetzt hatten ihm die Kreativen über Nacht also schon einen schmissigen Namen gegeben; Ealing Strangler. Jessie durchfuhr ein kalter Schauer. Sie stand hier gerade mitten in Ealing. Alleine und schutzlos.
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