Treulose Seelen
-Eine Fantasy-Anthologie-
Hrsg. Tim J. Radde
Im Sommer 2017 hatte ich die Idee, ein gemeinsames Projekt mit anderen Autoren auf die Beine zu stellen. Kurzgeschichten haben mich schon immer fasziniert, da der Autor wenig Platz hat, um seine Vorstellungen dem Leser zu verdeutlichen. Es muss klar und intensiv gearbeitet werden. Man kommt auf den Punkt.
Ich bin sehr froh, dass so tolle Schreiberinnen und Schreiber von meiner Idee überzeugt waren und sich mit mir an die Arbeit gemacht haben. Alle haben Verantwortung übernommen und diese Anthologie zu einem wirklich gemeinsamen Projekt gemacht.
Jede Kurzgeschichte dieser Sammlung hat das gleiche Oberthema: Verrat. Doch wie es umgesetzt und interpretiert wurde, blieb jedem selbst überlassen.
An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen und ein Anliegen unsererseits präsentieren.
Diese Anthologie ist bewusst kostenlos, da wir unseren Lesern etwas zurückgeben möchten. Ohne Leser gäbe es keine Autoren. Doch vielen Menschen ist dieses Privileg, Lesen zu können, nicht vergönnt. Deshalb unsere Bitte: Helft uns, etwas dagegen zu unternehmen!
Auf den Seiten www.plan.de/bildung-und-ausbildung/alphabetisierung.htmlund www.aktion-deutschland-hilft.de/de/fachthemen/bildung/alphabetisierunggibt es die Möglichkeit, durch Unterstützung und Spenden zu helfen. Es gibt viele Bereiche, wo mehr getan werden muss und in denen Organisationen Spenden dringend benötigen und verdienen. Doch jeder Mensch sollte die Chance bekommen, Lesen zu können.
Wir würden uns wirklich sehr freuen, wenn diese gute Sache von euch/Ihnen unterstützt werden würde und gespendet wird.
In diesem Sinne, viel Spaß beim Lesen unserer Anthologie!
Tim J. Radde, Herausgeber
Anmerkung: Jede Autorin und jeder Autor war für seine Kurzgeschichte und deren Inhalt selbst verantwortlich.
Sternminztee: Ein verhängnisvoller Genussvon Anne Schmitz
Die rogodanischen Schriften: Alte Traditionenvon Tim J. Radde
Wo ein Wille, da ein Dolchvon Christian Milkus
SCHWERT & MEISTER: Das Licht der Welsevon Florian Clever
Elesztrah: Das Versprechen des Jägersvon Fanny Bechert
Die Dämonen der Stillevon Joshua Tree
Erellgorh: Seelenstaubvon Matthias Teut
Jamil: Der Anfang vom Endevon Farina de Waard
Der alte Magier: Verrätervon Jürgen Schaaf
Der Dämon von Naruel: Der dritte Hütervon Janine Prediger
Die Magie der Bücher: Der Poet und die Nixevon Nadja Losbohm
Falaysia: Auferstandenvon Ina Linger
Edingaard: Ein Rat fürs Lebenvon Elvira Zeißler
Arakkur: Sylons Auftragvon Pascal Wokan
Danksagung
Sternminztee: Ein verhängnisvoller Genuss
Von Anne Schmitz
Über dem Lagerfeuer hing ein gusseiserner Kessel, in dem frisches Quellwasser kochte. Jonas Schafhirte griff in sein Proviantbündel, um ein Säckchen mit grünem Tee hervorzuholen. Sorgfältig maß er zwei Lot ab und streute die getrockneten Blätter ins Wasser. Tief sog er den aufsteigenden Duft in die Nase. Ein wohliges Gefühl durchströmte ihn. Er liebte diesen Tee.
Im Alter von zehn Jahren, es war sein erster Sommer allein in den Bergen gewesen, hatte er nahe einer Höhle die etwa kleegroßen Pflanzen entdeckt, die so betörend nach Pfefferminz und Zitrone rochen. Damals pflückte er zum ersten Mal die sternförmigen, grün-roten Blättchen und bereitete einen Tee zu. Seither trank er hier oben nur diese Sorte, die er Sternminz getauft hatte.
Hätte er vor nunmehr sieben Jahren gewusst, in welche Schwierigkeiten ihn der Tee bringen würde, hätte er ihn gemieden wie das Kaninchen den Fuchsbau.
Jonas goss sich eine Tasse Tee ein und nahm einen großen Schluck. Das heiße Getränk wärmte ihn mehr, als seine Kleidung aus grober Wolle es vermochte. Er strich sich durch das kurze, braune Haar und lehnte sich gemütlich an einen Felsen, den schönsten Moment des Tages auskostend. Die Schafe grasten in unmittelbarer Nähe, bewacht von den Hunden Pankas und Natu. Das Feuer knisterte leise und er genoss seinen Tee, während die Sterne über ihm am Firmament leuchteten.
»Ich habe es gut angetroffen«, sprach er zufrieden und kraulte Pankas‘ Kopf.
Ein Knacken durchschnitt die Stille der Nacht.
Sofort sprangen die beiden Hunde auf. Drohend knurrten sie in die Dunkelheit. Jonas griff nach seinem Hirtenstab, verharrte wartend. Mit einem Mal stürmten Pankas und Natu in den Wald und kehrten wenige Sekunden später, genüsslich auf Knochen kauend, wieder zurück. Jonas entspannte sich, als er den großen Mann erkannte, der hinter den Hunden her schritt. Es war Aonaran, der Einsiedler. Niemand wusste, wo genau er wohnte. Irgendwo in den Bergen, vermuteten die Leute. Er sei verrückt und gefährlich. Außerdem solle man ihm nicht zu nahe kommen, das verrate ja schon sein Äußeres. Seine Glatze bedeckten Symbole und Schriftzeichen, die angeblich nur er selbst zu entziffern vermöge. Ob Sommer oder Winter, er trug einen bodenlangen Pelzmantel aus Marder-, Wildschwein- oder Bärenfellen. An manchen Stellen schimmerten Schlangenhäute und sogar einige Adlerfedern waren eingenäht worden. Darunter kleidete er sich in Leinen. Schuhe trug er keine.
Jonas ließ den Hirtenstab sinken: »Mensch, Aonaran! Du hast mich erschreckt«, beschwerte er sich und bot seinem Gast mit einer Handbewegung einen Platz am Feuer an. Jonas gab nichts auf das Geschwätz der Leute und freute sich, dass der Einsiedler ihn ab und an besuchen kam.
»Ich habe extra einen Ast zerbrochen, damit du mich bemerkst!« Er lächelte. »Ich wollte sehen, wie es dir geht.«
Der junge Mann goss sich eine weitere Tasse Tee ein und reichte dem Einsiedler einen Wasserschlauch.
»Du trinkst immer noch diesen, wie nanntest du ihn doch gleich ... Sternminztee?«, erkundigte sich der Alte.
»Möchtest du auch einen?«, antwortete Jonas mit einer Gegenfrage.
»Nein, nein!«, Aonaran schmunzelte. »Das ist nichts für mich.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Ich habe gehört, es gehen in letzter Zeit merkwürdige Dinge hier in den Bergen vor.«
Das war Jonas neu. Verständnislos blickte er den Einsiedler an. »Mir ist nichts aufgefallen.« Er berichtete Aonaran von den Begebenheiten der vergangenen Tage. »Alles in allem ist es ruhig diesen Sommer!«, schloss er seine Ausführungen.
»Ach, ist auch nicht so wichtig. Ich wollte dich nur bitten, auf der Hut zu sein«, sagte der alte Mann und erhob sich.
»Was soll mir schon passieren, ich habe ja Pankas und Natu ... und meinen Hirtenstab«, fügte er mit Blick auf den übermannshohen Stab mit einer Krümmung an der Spitze, der neben seinem Hirtenmantel lag, hinzu.
»Das ist gut, das ist gut«, Aonaran nickte zum Abschied und ging mit großen Schritten davon.
Jonas schaute ihm hinterher. Was war das denn für ein merkwürdiger Besuch? Aber, was sollte man von einem Einsiedler anderes erwarten. Schmunzelnd rollte er sich am Feuer zusammen und schlief bald darauf ein.
Ein Knurren weckte ihn. Jonas öffnete die Augen und blickte vor die gebleckten Reißzähne eines Bären. Die Lefzen emporgezogen knurrte das Tier drohend. Geifer troff aus seinem Maul. Der Gestank nach faulem Fleisch war Übelkeit erregend.
Jonas wollte schreien, doch kaum hatte er einen Ton herausgebracht, wurde ihm ein Knebel in den Mund gestopft. Er hustete und würgte, bekam keine Luft. Panisch wollte er aufspringen, konnte jedoch Hände und Füße nicht bewegen.
Der Bär brüllte. Jonas atmete stoßweise durch die Nase ein und aus. Sein Herzschlag raste. Was war hier los? Wo waren Pankas und Natu? Verzweifelt blickte er sich um. Unter den Beinen des Tieres hindurch sah er die Hunde reglos neben dem Feuer liegen. Heftig strampelte der Schafhirte, versuchte verzweifelt, sich von den Fesseln zu befreien.
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