Fortuna
»Wie viele sind es?« Castello brüllte. Scott stand wie ein kleiner dummer Schuljunge da. »Naja, ich habe natürlich die Prioritäten der Bots auf dem alten Standard gelassen. Keine Kampfhandlungen im Konserver-Raum, Konserven über alles schützen.« Castello mochte nicht auf den Bildschirm schauen. Ein Bot übertrug das Bild aus dem Raum. Er sah aus wie ein Schlachtfeld. »Wie viele Gehirne wurden zerstört?«, brüllte Castello. »So an die zwanzig wohl«, stammelte Scott. »Zwanzig?« Castello schaute auf den Bildschirm, der gerade den toten Jasper zeigte. »Wenigstens haben wir diese eine Ratte erwischt und der andere kommt nicht weit. Mein Schiff bitte startklar machen. Scott, du kommst mit.«
Als Clark wieder zu sich kam, kletterte er aus dem Laderaum in sein Cockpit. »Daisy, flieg in die grobe Richtung Conestar 64. Kein Transponder, kein Navigationsabgleich, weg von den Transitstrecken.«
»Das ist nicht legal«, kommentierte Daisy. »Gewöhn dich schon mal daran. Das wird ab sofort öfter vorkommen. Wenn wir aus der Identifikationszone raus sind, gehst du auf direkten Kurs Conestar 64.«
Clark sah aus, als hätte er drei Nächte durchgefeiert. Sein Kopf dröhnte und er konnte sich nur schwer konzentrieren. Er musste an Patricia und Jaimie denken und ihm wurde klar, dass die beiden nun in Gefahr waren. »Daisy, ich möchte eine Nachricht auf die Fortuna schicken. Höchste Verschlüsselung über Envelope4.«
»Aufzeichnung läuft.«
Fortuna stand in einer Konstellation, die den Erdmond größer erschienen ließ als die Sonne. Es war Spätnachmittag und Jaime lud die eingefahrene Ernte von einem Trailer ab. Ihr Gesicht hatte sie mit einem Tuch bedeckt, denn es war windig und der aufgewirbelte Staub lästig. Sonne und Mond standen wie ein friedliches Paar über dem Haus, welches ein wenig chaotisch wirkte. Man baute halt immer das an, was gerade benötigt wurde. Patricia kam auf ihrem Pferd angeritten. »Sie mal, Jaimie, Karina kann wieder perfekt laufen. Sie hat auch ohne Probleme den Ein-Meter-Sprung geschafft.« Jaimie half ihrer Tochter vom Pferd. »Du solltest sie noch nicht so strapazieren. Ihre Verletzung ist noch nicht abgeheilt. Hilf mir bitte, das Gemüse ins Haus zu tragen.« Patricia schaute besorgt in die Körbe. »Die Ernte ist dieses mal nicht so gut ausgefallen.« Jaime nahm sich das Tuch vom Gesicht und lächelte. »Es wird schon reichen. Wir hatten diesmal nicht genug Wasser. Die Fortuna wird immer trockener.«
»Vielleicht zerfällt sie bald wieder zu Staub«, scherzte Patricia, während im Hintergrund ein Signal ertönte. »Da ist eine Nachricht gekommen. Schau mal nach, von wem sie ist.« Patricia lief zur Funkstation. »Sie ist von Clark. Endlich meldet sich mein Vater mal wieder.« Jaime setzte sich mit finsterer Mine an einen Tisch und kippte sich etwas kalten Tee in ein Glas. »Na wenigstens scheint er uns nicht ganz vergessen zu haben. Spiel sie ab.«
»Liebe Jaimie, liebe Patricia, es ist nun viele Jahre her, dass ich euch nicht mehr gesehen habe. Ich habe sehr viel an euch gedacht. Es hat in letzter Zeit bei mir schwerwiegende Veränderungen gegeben. Es tut mir leid, wenn ich euch schon wieder mit Problemen belästigen muss. Aber es geschehen zurzeit Dinge, für die ich nichts kann und die für euch bedrohlich werden könnten. Ich werde so bald wie möglich zu euch kommen und euch alles erklären. Bis dahin müsst ihr sehr vorsichtig sein. Ich werde verfolgt und es ist nicht ausgeschlossen, dass auch ihr bald verfolgt werdet. Bleibt auf jeden Fall dort, wo ihr seid, und schickt mir keine Nachrichten. Schickt niemanden Nachrichten. Ich liebe euch, euer Clark.«
Jaime und Patricia schwiegen sich an. Es gab nichts zu sagen, beide dachten dasselbe. Immer wenn Clark sich meldete, dann mit schlechten Nachrichten oder Problemen. Aber in der Welt, in der er lebte und die sie nicht verstanden, schienen Probleme an der Tagesordnung zu sein. Jedes Mal, wenn er sie besuchen kam, hatten sie gehofft, sie könnten ihn aus dieser Welt endlich rausreißen. Doch sie schien wie eine Droge zu sein, die einen in Abhängigkeit versetzte und nicht mehr loszulassen schien. Jedes Mal schwärmte Clark von seinen Gen Cocktails, die er mit einem Klavier verglich, auf dem er komponierte und auf dem die Oktave aus tausend Tönen bestand. Und wie er als beständiger Gewinner jedes einzelne Patent vor dem Weltkomitee einklagte. Auf der Fortuna lebten rund eine Millionen Menschen, die alle nur deshalb keine Gewinner sein konnten, weil es keine Verlierer gab.
Die Fortuna war ein Geschenk von Allsa an die Individualisten. Eigentlich war der Format Makulatur. Zwei mal drohte schon die Evakuierung, weil die Atmosphäre kurz vor dem Zusammenbruch stand. Es grenzte fast an ein Wunder, als sie sich vor hundert Jahren dann doch stabilisierte. Allsas großzügiges Geschenk diente nur dazu, um eine Millionen lästige Kritiker zu entsorgen, als die Individualisten ihre Unabhängigkeit errangen.
Diesmal brauchte Clark keinen Dämmerschlaf. Er war so erschöpft, dass er von den dreizehn Stunden Flug zwölf Stunden durchschlief. Als das Stationssystem der Conestar 64 wieder beharrlich nach seiner Identifizierung fragte, trank er einen seiner selbst angerührten Muntermacher. »Besser als alles, was es von Allsa gibt«, murmelte er und flog in die Schleuse ein.
Als er durch die Gänge lief, war er richtig aufgeregt und glücklich darüber, dass er Mel so schnell wieder besuchen konnte. Nur war er nirgendwo zu erblicken. Nach 10 Minuten Suche wurde Clark nervös. Er stand vor einem Sektorblock und drückte auf die Intercom.
»Mellie?«
Die ganze Station erhallte seine Rufe, doch es rührte sich nichts. Clark verharrte dort eine weile und versuchte Geräusche zu hören. Nur das Vibrieren der Aggregate und das leise Surren seines Fußballgroßen Bots, der neben ihm schwebte, waren zu hören. Auch Daisy konnte ihn nicht orten. Clark grübelte einen Moment, was passiert sein könnte. Ihm war klar, dass die Zeit rannte und Castello hier bald auftauchen würde. »Mel, verdammt, was ist los?«, sagte er leise zu sich und ging in die Fertigungshalle, in der er ihn zuvor gefunden hatte. Nichts. Hatte er sein Leid nicht mehr ertragen können und einen Weg gefunden, sich zu vernichten? Clark wurde immer nervöser. Unruhig lief er zwischen den Regalen umher und schaute in jeden Winkel. Nichts. Er lief in einen Lagerraum, in dem, neben Gerümpel und Verpackungsmaterial, noch einige Paletten mit fertigem IW45 standen. »Mel, komm her, ich habe Neuigkeiten für dich.« Als er gerade hinter einer Palette nachsehen wollte, schoss plötzlich Mel hervor und würgte ihn mit seiner Greifzange. »Ich habe auch Neuigkeiten für dich, Clark, du mieses Dreckschwein.«
»Mel, lass das, ich kann dir alles erklären«, röchelte Clark. »Du brauchst mir nichts mehr zu erklären, ich weiß schon alles.«
»Mel, ich kriege keine Luft mehr, hör bitte auf.«
»Es wird mir Kraft geben, wenn ich wenigstens einen von euch miesen Verrätern erledigt habe.«
»Mel, dass ist ein Missverständnis.« Clark lief blau an. »Clonedake pleite? Ein Missverständnis? Du hast mich widerwärtig reingelegt.«
»Mel, ich habe deinen Körper gefunden.«
»Ich werde auf deine Lügen nicht mehr reinfallen.« Mel drückte immer fester zu. Mit letzter Kraft zog Clark die Kette aus der Tasche und hielt sie hoch. »Dein Körper existiert. Sieh dir das hier an.« Mel ließ nun etwas locker, behielt Clark aber noch im Griff, der nach Luft rang. »Wo … wo hast du das her?«
»Mel, wenn du mich jetzt umbringst, wirst du es nie erfahren.«
»Das ist eine Fälschung, ein übler Trick.« Mel drückte wieder fester zu. »Ich … kann es … dir … erklären«, röchelte Clark. »An welchem Handgelenk war die Kette? Rechts oder links?«
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