»Das mach ich nicht länger mit, das ist doch irre.«
Er befand sich gefühlsmäßig sehr nahe an der Entscheidung aufzugeben. Jetzt kam mir Lutz zu Hilfe. Er fand die Situation aufregend und wollte keinesfalls abbrechen. Er redete so lange auf Peter ein, bis er ihn überzeugt hatte, weiterzufahren. Es wurde heiß im Auto, Jonas kurbelte sein Fenster wieder hinunter. Lutz sah auf die Uhr und verkündete fröhlich:
»Wir sind jetzt ungefähr zehn Minuten unterwegs, im Schritttempo. Lass uns auf die Uhr und auf den Kilometeranzeiger sehen.«
»Hab ich«, brummte Peter, »bisher fast zwei Kilometer.«
Lutz kniff die Augen zusammen.
»Da! Björn hat angehalten!«
Wir sahen nichts.
»Na, dort hinten, die riesige Staubwolke vom Bremsen!«
Nun sah man auch so etwas wie ein Haus, ein unscheinbarer Kasten in einem traurigen, matten Ocker.
Als Peter den Citroen hinter dem Jeep zum Stehen brachte, hatte Björn das Ehepaar Kohlmeyer längst begrüßt und sprach mit ihnen übers Wetter.
Kohlmeyers waren deutsche Auswanderer, hatten vor Jahrzehnten dieses riesige Stück Land vom Staate Irland erworben, fanden es nun aber an der Zeit, weiterzuziehen. Das fand ich mutig, schienen sie doch schon etwas älter zu sein. Beide waren nicht sehr groß, weißhaarig, machten aber einen sehr drahtigen Eindruck. Sie trugen ein Kleidungsstück, das Jonas' Buddelhose sehr ähnelte, eine Latzhose aus Gummi. Die Modelle unterschieden sich nur in der Farbe. Jonas besaß eine in himmelblau, Kohlmeyers bevorzugten offensichtlich Tarnfarben, vorzugsweise grün. Dazu passend hatten sie kniehohe Gummistiefel an, die bis zu den Knöcheln mit angetrocknetem Modder verziert waren. Frau Kohlmeyer kam gerade aus dem Hühnerstall, Herr Kohlmeyer vom Gehege der Ziegen.
»Wir sind Selbstversorger. Wir haben Schafe, Hühner und Ziegen. Kräuter und Gemüse ziehen wir im Gewächshaus.«
Jonas sah sich um.
»Wo sind die Schafe?«
Herr Kohlmeyer zeigte in die hügelige Ferne.
»Irgendwo da oben, wo es noch ein paar saftige Grashalme gibt. Wir haben hier unten große Wassertröge aufgestellt, aber das haben sie noch nicht kapiert.«
Jonas war nicht beruhigt.
»Werden sie überleben?«
Herr Kohlmeyer lachte und klopfte Jonas auf die Schulter.
»Ganz sicher. So blöd sind sie auch nicht. Na ja, vielleicht...«
Er sprach den Satz nicht zu Ende, sah in die Ferne, stockte einen Moment und wechselte das Thema.
»Jetzt kommt erst mal herein. Ihr müsst ja ganz hungrig und durstig sein nach der langen Fahrt.«
Kohlmeyers legten ein freundschaftliches Verhalten an den Tag, man konnte meinen, wir seien alte Kumpel.
Es gab Lammsalami, Ziegenkäse, Brot mit sehr grob gemahlenen Getreidekörnern und Limonade, alles aus eigener Herstellung. Die Salami war mild, schmeckte aber sehr nach Lamm. Ebenso der Käse, wenig Käse-, viel Ziegengeschmack. An dem Körnerbrot biss sich Lutz im wahrsten Sinn des Wortes einen Zahn aus, versicherte aber, dass der sowieso schon locker gewesen sei und man bitte kein weiteres Aufheben deswegen machen sollte. Er wickelte den Zahn sorgfältig in eine Papierserviette, verstaute ihn in der Brusttasche seiner Jacke und lächelte.
»Ob ich noch eine Scheibe von der leckeren Lammsalami bekommen könnte?«
Kohlmeyers freuten sich und hielten uns Vorträge über gesundes Essen. Peter und Jonas, die Banausen, klammerten sich ausschließlich an die Limonade. Kohlmeyers referierten über eine bewusste Lebenshaltung, die zum Beispiel ein Zähneputzen mit industriellen Pasten untersagte, da diese auf unwiederbringliche Weise die Mundflora zerstörten. Darüber hinaus hielten sie vernünftige Schlafenszeiten für wesentlich, nicht in erster Linie der Gesundheit wegen, sondern um sinnlosen Stromverbrauch zu vermeiden. Das bedeutete ein Aufstehen bei Sonnenaufgang und ein Zubettgehen bei Sonnenuntergang. Sie hatten noch viele Ratschläge, eigentlich Anweisungen, von denen sie erwarteten, dass wir sie in Zukunft bedingungslos umsetzten.
Uns wurde ganz schwindelig, da wir einsehen mussten, dass unser Leben bisher eine ökologische Katastrophe war und wir wirklich grundsätzliche Dinge ändern mussten.
»Wer wird verantwortlich für Kräuter und Gemüse sein?«, fragte Frau Kohlmeyer streng in die Runde.
Peter hob spontan, aber etwas eingeschüchtert den Arm. Spontan, nicht, weil er sich für Kräuter und Gemüse interessierte, sondern für Gewächshäuser an sich und eingeschüchtert, weil Fr. Kohlmeyer das Gehabe eines Generals an sich hatte.
Frau Kohlmeyer sprang auf.
»Dann los! Genug gegessen. Ich zeige Ihnen, wie Sie das Gewächshaus bestellen müssen.«
Peter folgte ihr stumm. Oder hörte ich da ein Gluckern von der kohlensäurehaltigen Limonade in seinem leeren Magen?
Herr Kohlmeyer sah Lutz an.
»Werden Sie auch hier einziehen?«
Lutz räusperte sich, fasste sich schnell und reagierte großartig.
»Es ist noch nicht hundertprozentig, aber ja. Und ich werde kochen.«
»Na, dann erkläre ich Ihnen, wie die Küche funktioniert. Es ist nämlich gar nicht so einfach mit den verschiedenen Öfen.«
In der Türschwelle drehte er sich um und sah mich an.
»Waschmaschine und Trockner sind im Keller. Gehen Sie schon mal vor. Ich erkläre es Ihnen später.«
Träumte ich? Und wohin ging er eigentlich mit Lutz, wir saßen doch schon in der großen Wohnküche.
»Mama, habt ihr das Haus gekauft?«
»Nicht, das ich wüsste.«
Peter kam mit Frau Kohlmeyer zurück. Er war begeistert.
»Das muss du dir anschauen! So ein riesiges Gewächshaus hast du noch nie gesehen. Es ist fast genauso groß wie das ganze Haus. Alles was dein Herz begehrt. Ganzjährig. Aber viel Arbeit.«
Frau Kohlmeyer sah Jonas an.
»Du magst Schafe?«
Jonas nickte.
Frau Kohlmeyer nahm ein kleines, entzückendes Schaf aus Stoff von der Fensterbank und reichte es Jonas.
»Hier, das schenke ich dir. Als Erinnerung an uns.«
»Danke.«
Anmerkung:
Genau dieses Spielzeugschaf ist auf dem Umschlag meines Buches " Irland - Mein Tagebuch " zu sehen. So bleiben Kohlmeyers für immer unvergessen.
Jonas tauchte das freundlich bemalte Gesicht des sehr authentisch aussehenden Spielzeugs in sein Limonadenglas.
»Es hat bestimmt Durst.«
Mir war irgendwie merkwürdig zumute. Verloren wir gerade alle den Verstand?
Lutz tauchte in der Tür auf. Er winkte uns fröhlich zu sich.
»Auf geht's. Kamin besichtigen.«
Wir folgten ins Wohnzimmer. Herr Kohlmeyer erklärte Herkunft, Bauweise und Anwendung des gemauerten Schmuckstücks. Seinerzeit war extra ein österreichischer Kaminbauer angereist, samt Schamottesteinen und Kacheln mit alpenländischen Motiven ("Jodler-Stil") auf ebenfalls tarngrünem Untergrund. Wir waren sprachlos.
Weiter ging's durch das dunkle Treppenhaus in den ersten Stock. Nein, elektrisches Licht entzündeten wir keines, wir wollten ja nicht verschwenderisch wirken. Die knarzenden Dielen – die auch aus dem Ausland geliefert worden waren, da man den Iren bei Baustoffen nicht trauen kann –, die Einrichtung samt abgewetzter Teppiche und der modrige Geruch erinnerten mich zu hundert Prozent an das in den fünfziger Jahren gebaute und nie renovierte Häuschen meiner Urgroßmutter in Schwaben. Gefühlsmäßig einfach niederschmetternd.
Nun ging es nach draußen.
Die Ställe mussten vor Einbruch der Nacht noch inspiziert werden und es drohte schon zu dämmern. Die Tiere schafften es selbst bei dieser Trockenheit, die Erde in Matsch zu verwandeln. Lutz blieb mit seinen schwarzen eleganten Halbschuhen im Schlamm stecken, verkündete, dass er mit den Tieren sowieso nichts zu tun habe und ging zum Haus zurück.
Peter begutachtete die Ställe, ließ die Erklärungen, auf welche Weise und wie oft sie zu reinigen seien, freundlich über sich ergehen, sah dann auf das umliegende Land und wollte nun doch wissen, wie groß das Grundstück ungefähr sei. Herr Kohlmeyer zuckte die Schultern.
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