Der Schaffner öffnet die Tür. Mit gleichgültiger Miene halte ich ihm meine Fahrkarte hin. Ich bin gespannt, wie er reagieren wird. Er tut, als wäre alles in Ordnung. Er knipst die Karte und reicht sie mir zurück.
„In Schönefeld haben Sie 11.36 Uhr Anschluss nach Potsdam.“ Ich bin verblüfft.
„Ist das hier der Zug nach Berlin?“, frage ich erstaunt.
„Welcher denn sonst?“, entgegnet er leichthin. Er fertigt gleichmütig die übrigen Reisenden ab, aber um seinen Mund liegt ein feines ironisches Lächeln.
Die Tür klappt zu; wir sind wieder allein. In meinem Kopf beginnt es zu arbeiten. Erlaubt man sich einen Spaß mit mir? Wohl habe ich das Lächeln des Schaffners bemerkt. Unsicher hole ich mein Kursbuch aus der Tasche. Welcher andere Zug fuhr etwa zur gleichen Zeit in Erfurt los? Ich finde keine befriedigende Erklärung. Der Berliner Zug ist um diese Zeit der einzige, der im Plan steht.
Aber ich weiß doch ganz sicher, dass ich noch nie in meinem Leben hier gewesen bin. Ich habe mich immer mit offenen Augen durch meine Umwelt bewegt. Und die Landschaft draußen wird immer fremdartiger. Es muss ein Irrtum vorliegen. Ich halte es nicht länger in meinem Sitz aus. Entschlossen stehe ich auf und eile dem Schaffner hinterher. Ich muss mir Gewissheit verschaffen. Ich laufe durch alle Wagen, doch der Mann ist seltsamerweise nicht mehr zu finden. Wohin ist er verschwunden? Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Im letzten Wagen muss ich meine Suche abbrechen. Nachdenklich schaue ich durch die hintere Tür auf die Gleise, die mit rasender Geschwindigkeit unter dem Zug hervorhuschen und in der unbekannten Gegend zurückbleiben.
Ergebnislos kehre ich ins Abteil zurück. Die anderen unterhalten sich. „Fahren Sie das erste Mal nach Berlin?“, frage ich.
„Ja“, antwortet die Mutter des Jungen, „wir besuchen meine Schwester. Seit fünf Jahren haben wir uns nicht mehr gesehen.“
„Und Sie?“, wende ich mich an die beiden Soldaten.
„Wir fahren hier fast alle 14 Tage. Jedes Mal, wenn wir Urlaub bekommen. Wir haben beide unsere Verlobten in Erfurt.“
„Fällt Ihnen nicht auf, dass wir heute eine andere Strecke fahren?“
„Ach, wissen Sie“, entgegnen sie etwas verlegen, „das können wir nicht genau sagen, da wir in der Bahn meist schlafen. Als Soldat ist man immer müde und schläft, wo sich eine Gelegenheit ergibt.“
„Aber wir fahren heute wirklich eine andere Strecke.“
Ich lasse nicht locker. „Vielleicht kommen wir ganz woanders an, als wir denken.“
Die Frau schaut mich ängstlich an. „Das kann doch gar nicht sein. Ich habe in Erfurt extra den Bahnhofsvorsteher gefragt, ehe ich eingestiegen bin.“
„Vielleicht werden wir umgeleitet“, wirft der Junge ein.
„Natürlich“, meint die Frau aufatmend, „so wird es sein. Bei diesem Wetter kann es leicht vorkommen, dass ein Zug umgeleitet wird.“
„Aber wir haben doch jetzt ganz normale Verhältnisse.“ Ich weise auf den Sonnenschein draußen.
„Bei der Reichsbahn kann der Fahrplan selbst bei dem schönsten Wetter durcheinandergeraten.“
Umgeleitet. Ich klammere mich an diese Erklärung. Aber sicher werden wir dann mit viel Verspätung ankommen. Mich stört es nicht. Mein Termin ist sowieso geplatzt. Ich habe auf einmal viel Zeit. Meinetwegen könnten wir bis ans Ende der Welt fahren. Und die Soldaten freuen sich erst recht über jede Verspätung. Sie drängen sich nicht danach, zeitig wieder ihren Dienst anzutreten. Auch die Mutter mit ihrem Sohn ist gelassen.
„Wenn Käthe merkt, dass wir verspätet ankommen, wird sie sicher wieder nach Hause gehen und dort auf uns warten.“
So fahren wir beruhigt weiter. Irgendwann müssen wir ja doch einmal in Berlin ankommen. Und vielleicht haben wir auch gar nicht so viel Verspätung, denn der Zug fährt jetzt immer schneller.
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Wie lange fahren wir eigentlich schon? Endlose Stunden sind vergangen. Schon längst müssten wir angekommen sein. Ich bezweifle immer mehr, dass wir jemals in Berlin landen werden. Die Gegend draußen wird immer fremdartiger.
Die Sonne steigt. Es wird immer wärmer. Ich öffne das Fenster und schaue hinaus. Wohin fahren wir? Seit Stunden hat der Zug nicht mehr gehalten. Die Signale stehen auf Grün. Irgendwo weit weg ist das Gehirn, das unsere Fahrt steuert, die Weichen stellt, die Signale bedient. Wenn ich nur wüsste, wo unser Weg hinführt!
Wir fahren unentwegt. In der Ferne sehen wir fantastische Städte vorbeihuschen. Ich fühle mich wie in eine ganz andere Zeit versetzt. Und die Gegend wird immer unerklärlicher. Seltsame Bauten erheben sich auf den Hügeln. Fremde, nie gesehene Bäume umgeben die Strecke. Und keiner, den es wundert. Sehen die anderen nicht, dass wir völlig falsch fahren? Wieso lässt es sie so gleichgültig?
Ich gehe wieder zum Schaffner. Diesmal finde ich ihn gleich. Er sitzt in seinem Dienstabteil und schreibt in einem kleinen schwarzen Buch.
Wohin fahren wir eigentlich?“, frage ich. Meine Stimme ist unsicher. Er schaut auf.
„Es besteht kein Grund zur Aufregung. Wir haben etwas Verspätung. Ich kann Ihnen nicht genau sagen, wann wir ankommen werden.“ Ich achte genau auf sein Gesicht, doch dem ist nichts anzumerken. Seine Ruhe ist unerschütterlich.
Ich bin beunruhigt. Irgendjemand treibt ein falsches Spiel mit uns. Ich begebe mich wieder auf meinen Platz. Es ist geradezu heiß geworden. Wir fahren durch eine öde Gegend. Die kahlen Berge sind spärlich mit Gras bewachsen. Vereinzelt stehen verdorrte Bäume. Sie geben der Landschaft einen trostlosen Anstrich. In den Tälern sehen wir manchmal Steinhaufen, wie die Überreste von seit Generationen verlassenen Dörfern.
Der Zug fährt langsamer. Wir überqueren eine Brücke. Unter uns ist eine Schlucht. Flüchtig sehen wir tief unten das ausgetrocknete Flussbett. Langsam quält sich der Zug weiter. Die Umgebung wird immer trostloser. Wohin sind wir bloß geraten?
Wir stehen. Ich schaue aus dem Fenster. Ich kann nicht erkennen, warum wir halten. Kein Bahnhof, kein Signal ist zu sehen. Ich steige aus und laufe nach vorn. Dicht vor der Lokomotive endet das Gleis. Dahinter erstreckt sich eine endlose Wüste. Weiter geht es nicht.
Ich habe genug gesehen. Ich steige wieder ein und suche den Schaffner. „Wir haben uns verfahren“, erkläre ich, „es muss ein Versehen sein, irgendeine falsch gestellte Weiche. Wir sind auf ein Abstellgleis geraten, auf eine Strecke, die seit Jahren nicht mehr benutzt wurde.“
Der Schaffner lächelt etwas mitleidig. „Schon möglich. Es kommt ab und zu einmal vor, dass ein Zug umgeleitet wird. Was ist daran so Besonderes?“
„Aber vor uns endet das Gleis.“
„Unmöglich.“
„So sehen sie es sich doch selbst an!“, rufe ich. Er zuckt mit den Schultern und folgt mir. Draußen erwartet uns eine neue Überraschung. Die Lokomotive ist verschwunden.
„Kein Grund zur Sorge! Wir werden eine andere bekommen. Es war eingeplant, dass die Lok unterwegs ausgetauscht wird. Wie Sie sehen, ist alles in Ordnung.“
Er verließ mich. Ratlos blieb ich zurück. Wohin war die Lok verschwunden? Es war doch eine eingleisige Strecke. Und vor uns war die Wüste.
Es ist so rätselhaft. Und doch weiß ich eines genau: Wir werden nie mehr eine andere Lok bekommen.
Ich schaue in die Wüste. Sie hat eigentlich nichts Bedrohliches an sich. Ich ahne, dass gerade darin ihre Gefährlichkeit besteht. Ich weiß, die Wüste ist endlos. Man könnte sie Ewigkeiten durchwandern – nie käme man an ihr Ende.
Ich muss schleunigst zurück, um Hilfe zu holen.
Ich ging am Zug entlang. Erst jetzt fiel mir auf, wie viele Wagen er hatte. Die Lok konnte unmöglich so viele Waggons fortbewegt haben. Je länger wir gefahren waren, umso mehr schien unser Zug angewachsen zu sein, schienen sich immer mehr Menschen uns angeschlossen zu haben, um mit uns vereint, ohne die Gefahr zu bemerken, ins Ausweglose zu geraten.
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