Als ich endlich unten bin, bleibe ich dicht am matschigen Ufer stehen. Meine Zehenspitzen berühren das Wasser, das heute noch grauer wirkt als gestern. Wieder spiegelt sich der blaue Himmel nicht auf der Oberfläche, stattdessen sieht es aus, als nahe ein Gewitter.
Ich hocke mich hin und berühre das Wasser mit meinen Händen, dann horche ich in mich hinein und verbinde mich mit dem See. Es dauert ein bisschen länger als ich es gewohnt bin, doch dann bin ich verbunden und höre wieder dieses weinende Geräusch. Es ist kein menschliches Weinen. Es hört sich beinahe so an, als würde ein Streichinstrument traurige Töne spielen. Die Wasserwesen sprechen nicht zu mir, und ich kann sie auch nicht zwingen, da ich nicht mehr ihre Königin bin. Normalerweise zeigen sie sich sofort, wenn ich mich mit dem Wasser des Sees verbinde, doch dieses Mal fühle ich nur, dass sie da sind, mehr aber nicht. Verwundert löse ich die Verbindung und stehe wieder auf. Sowas habe ich noch nie erlebt.
Ich gehe weiter am Ufer entlang. An den meisten Stellen wächst das Schilf und die gelbe Sumpfdotterblume so hoch, dass ich ein paar Meter vom Ufer entfernt laufen muss, um auf festem Boden zu bleiben. Meine Augen suchen währenddessen den Boden nach Spuren weiterer Treffen menschlicher Individuen ab. Ich erkenne, dass vor nicht allzu langer Zeit jemand den See umrundet hat. Das Gras liegt in einer breiten Spur flacher als im umliegenden Teil. Doch diese Spuren könnten entweder meine eigenen oder die von Fletcher sein, der gestern Abend noch hier war.
Ich erreiche den Bootssteg am gegenüberliegenden Ende des Sees und steige soweit darauf, wie die zerbrochenen Latten es zulassen. Vor einer fehlenden Latte knie ich mich nieder und schaue in das tiefere Wasser. Es ist so dunkel im See, dass ich weder die hohen Spitzen der Algen, noch kleine Fische oder Mückenlarven sehen kann. Der See wirkt wie tot auf mich.
Ich sehe wieder auf und blicke mich um. Kein Lüftchen weht, kein Vogel zwitschert, es ist absolut still. Noch nicht einmal das Wasser bewegt sich. Wäre da nicht mein eigenes Atemgeräusch, könnte ich glauben, ich wäre taub.
Vorsichtig erhebe ich mich und will auf dem Bootssteg umkehren, als plötzlich ein Krachen ertönt und ich in die Luft geschleudert werde. Ich will mich umsehen und wissen, was passiert ist, doch da bin ich schon durch die gebrochenen Latten im kalten Wasser gelandet. Mein Hinterkopf schlägt gegen einen Pfosten des Steges und ich tauche ungewollt mit dem Kopf unter, gerade in dem Moment, als ich nach Luft schnappen will.
Meine Lunge füllt sich mit Wasser und ich strample mit Armen und Beinen, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Panik erfüllt mich, als sich die helle Oberfläche weiter und weiter von mir entfernt, bis ich nur noch einen helleren grauen Fleck über mir sehen kann.
Dann plötzlich spüre ich einen Griff um mein Fußgelenk. Der Druck ist so stark, dass ich vor Schmerz gurgelnd aufschreie. Was auch immer mich da gepackt hat, zieht mich noch tiefer nach unten. Die Kraft hinter dem Zug ist so immens, dass meine Arme nach vorne schnellen, meine Ohren knacken und mir ganz schwindelig wird. Vor Angst schreie ich wieder, was aber nur dazu führt, dass ich noch mehr Wasser in meine Lungen bekomme. Ich kann nicht mehr klar denken und höre plötzlich ein fieses, gurgelndes Lachen.
Angst und Panik erfassen mich und lassen das Adrenalin in meinen Adern ansteigen. Ich erinnere mich wieder daran, wer und was ich bin. Mit letzter Konzentration, die mein umnebeltes Gehirn noch aufbringen kann, verbinde ich mich mit dem Element Luft, halte die Hände nach unten und lasse einen wirbelnden Luftstrahl ins Wasser gleiten. Mein Körper schießt wie eine Rakete nach oben. Der Griff um meinen Knöchel lockert sich widerwillig und ein mieses Knurren ertönt, bevor ich endlich die Wasseroberfläche durchbreche.
Hustend und gurgelnd hole ich Luft und blinzle das Wasser aus meinen Augen. Ich bin in der Mitte des Sees aufgetaucht, mehr als zweihundert Meter vom Bootssteg entfernt. Die dunkle Tiefe unter mir schürt meine Panik und meine Bewegungen werden hastiger. Ich nehme wieder das Element Luft zur Hilfe, um so schnell wie nur eben möglich ans Ufer zu kommen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich es aus dem tiefen Wasser herausgeschafft und spüre endlich den schlammigen Boden unter meinen Füßen. Mit letzter Kraft schleppe ich mich ans Ufer, stapfe durch den hüfthohen Schilf und breche auf dem Gras dahinter zusammen. Mein Röcheln ist übermäßig laut in der Stille. Ich würge, drehe mich auf die Seite und spucke einen Schwall Wasser aus.
„Scarlett? Scarlett!“ Die Rufe kommen immer näher.
Ich drehe mich wieder zurück und setze mich zitternd auf. Durch das ganze Wasser kann ich nur verschwommen sehen, doch ich erkenne Chris sofort, als ich sein rot kariertes Hemd inmitten der Bäume entdecke. Wie zur Bestätigung beginnt mein Brustbein warm zu kribbeln und ich weiß, dass mein Gefährte auf dem Weg zu mir ist.
Er erreicht mich, als ich wieder Wasser aushuste.
„Scarlett, was ist passiert?“, fragt er besorgt und streicht die nassen Strähnen meines Haares aus meinem Gesicht. Er ist in seiner Mannwolfgestalt und das weiche Fell von seinen Händen trocknet meine nasse Wange.
„Ich bin beim Bootssteg eingebrochen“, sage ich mit heiserer Stimme und huste wieder.
Chris´ Blick gleitet zum Steg und seine Stirn legt sich verärgert in Falten. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, hebt er mich auf seinen Arm und drückt mich an sich. Erst, als ich seinen warmen Körper an meinem spüre, bemerke ich, wie kalt ich bin. Trotz der sommerlichen Temperaturen war das Wasser beinahe eiskalt.
In weniger als einer Minute hat Chris mich hoch zum Haus getragen und setzt mich erst ab, als wir oben im Bad sind. Meine Beine sind wackelig und erst jetzt merke ich, wie schwindelig mir noch immer ist. Er führt mich zum Rand der Badewanne und ich setze mich dankbar darauf.
„Soll ich dich zu einem Arzt bringen?“, fragt er besorgt und hockt sich vor meinen Beinen hin.
„Nein, nicht nötig“, wehre ich ab und massiere meine Schläfen, während ich die Augen schließe, weil sich alles um mich herum dreht. „Ich bin bloß erschöpft, denke ich.“
Chris´ Hände gleiten über meine nassen Beine, bis er schließlich meinen Knöchel anhebt. „Was ist das denn?“
Der scharfe Ton seiner Stimme lässt mich die Augen wieder öffnen. Er deutet auf meinen Knöchel und ich folge seinem Blick: Längliche, blaue Striemen, drei an der Zahl, ziehen sich um mein Fleisch, knapp oberhalb des Knöchels. Ein weiterer einzelner Striemen ist auf der Rückseite zu sehen. Es sieht fast wie ein Handabdruck mit vier sehr langen Fingern aus.
Ich reiße die brennenden Augen auf. „Ich hatte das Gefühl, als wenn mich etwas oder jemand unter Wasser gezogen hat. Und als ich dann endlich wieder auftauchen konnte, war ich in der Mitte des Sees!“
Chris´ Augen funkeln verärgert. „In der Mitte des Sees? Der See ist knapp fünfhundert Meter breit!“
„Ja, ich weiß“, sage ich und muss wegen der nassen Klamotten zittern.
Chris reagiert sofort und stellt mich wieder auf die Füße, bevor er mir hilft, mich von dem klammen Shirt zu befreien. Dann fasst er mit den Armen um mich herum und öffnet meinen BH.
„Du bist eiskalt“, sagt er nachdenklich und knöpft meine Hose auf. „Hätte ich doch nur den Steg letztes Jahr schon repariert, dann wäre das nicht passiert.“
„Nein, daran lag es nicht“, versuche ich seine Selbstvorwürfe zu lindern. „Es fühlte sich eher so an, als sei etwas von unten gegen den Steg gestoßen, als ich darauf stand. Irgendwas wollte, dass ich ins Wasser falle.“ Meine Zähne klappern und ich beiße mir aus Versehen auf die Zunge.
Chris hebt eine Augenbraue und zieht mir die Hose von der Hüfte. „Sicher?“, hakt er skeptisch nach. „Oder willst du nur, dass ich mich wegen des Steges besser fühle?“
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