Chris lehnt sich wieder vor und stützt die Ellenbogen auf. „Meinst du, da unten hat jemand eine dunkle Messe abgehalten?“ Er zieht nachdenklich die Augenbrauen zusammen. „Hättest du der Polizei davon erzählen müssen?“
Ich halte inne. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. „Keine Ahnung“, gebe ich zu und zucke mit den Schultern. „Ich denke, diese Gruppe hält sicherlich immer irgendwo ihre Messen ab, ob nun am See, mitten im Wald oder bei jemandem zuhause im Kinderzimmer. Außerdem ist ja nicht sicher, dass es wirklich Marcus Daim und seine Freunde waren“, versuche ich mich rauszureden und seufze abschließend. „Okay, vielleicht hätte ich es erwähnen können.“
Chris nickt langsam und blickt grüblerisch ins Nichts. „Können Jugendliche, die keine echten Hexen sind, überhaupt mit Magie jemanden gefährden? Könnte ihr Ritual, oder was auch immer sie dort unten am See gemacht haben, für das Verschwinden von Marcus Daim verantwortlich sein?“
„Ich denke eher nicht, außerdem habe ich dort keine Reste von Magie gespürt“, antworte ich und sehe vor meinem inneren Auge die leeren Bierflaschen, Pizzakartons und Wachsreste im Gras liegen. „Wenn sie allerdings mit einem Ouija Board gearbeitet oder Gläserrücken gemacht haben, können sie ein Tor geöffnet haben, wie du ja weißt. Aber da unten war kein Tor zur Unterwelt. Da war nur die Trauer des Sees.“
Von der Stimme, die ich dort gehört habe, sage ich nichts. Irgendwie komme ich mir dumm und hysterisch vor, wenn ich nur daran denke, dass ich sie gehört haben will. Vermutlich hat mich jemand heimlich beobachtet und sich einen Spaß daraus gemacht, mich zu erschrecken. Immerhin habe ich nichts Magisches, ob nun gut oder böse, dort unten gespürt.
„Dann ist es wohl nicht so wild, wenn wir deinen Fund erstmal für uns behalten“, sagt Chris und steht auf. Er kommt um die Kücheninsel herum auf mich zu und streicht mir mein langes Haar über die Schulter. „Was hast du noch vor?“, will er wissen und ich erschaudere, als seine Fingerspitzen meinen Hals streifen.
„Ich gehe gleich runter zum See, aber zuerst will ich Elvira einen Besuch abstatten und fragen, ob sie Kommissar Schlegel kennt.“
Chris nickt und massiert dabei meinen Nacken. „Es war schon seltsam, dass er dich auf deine Tante angesprochen hat.“
„Ja, das denke ich auch. Ich bin auf jeden Fall im Vorteil, wenn ich weiß, was er weiß.“
„Ella, deine Tochter ist hier“, ruft Elvira durch den schmalen Wohnungsflur und schiebt mich in Richtung des Wohnzimmers. „Nun mal nicht so schüchtern“, flüstert sie in mein Ohr und drückt noch ein wenig fester gegen meinen Rücken. „Sie hat heute einen guten Tag.“
Ich trete durch den Türrahmen und sehe meine Mutter auf dem eukalyptusgrünen Sessel mit den Mooreiche-Armlehnen vor dem Fenster sitzen. Trotz der sommerlichen Wärme hat sie eine bunte Häkeldecke um ihre Schultern gelegt. Ihr Blick ist nach draußen gerichtet, wo sie auf die Baumkronen und die kleinen Wattewolken am sonst klaren Himmel schaut.
„Hallo Mama“, sage ich leise und bleibe an der Wand neben der Tür stehen.
Uns trennen noch rund vier Meter, doch sie zuckt trotzdem zusammen und ich sehe, wie ihre knochigen Finger sich in die Häkeldecke krallen.
„Hallo Scarlett“, antwortet sie, ohne den Blick vom Fenster zu nehmen.
„Ich mache uns Tee, okay?“, ruft Elvira heiter aus der Küche und schon klappern Tassen und Wasser rauscht.
„Okay“, rufe ich zurück und gehe langsam auf das Sofa zu. Meine Mutter beobachtet mich im Augenwinkel und spannt ihren gesamten Körper an. „Ich setze mich hier hin, okay?“, sage ich und zeige auf das braune Sofa mit der orange karierten Decke darauf.
Mama nickt.
Ich bewege mich beinahe im Zeitlupentempo, setze mich hin und zucke selbst zusammen, als die Sprungfedern im Sofa quietschen. „Wie geht es dir?“
Sekunden verstreichen, in denen ich mir nicht sicher bin, ob heute einer dieser Tage ist, wo sie mich ignoriert, oder nicht.
„Gut“, sagt sie schließlich so leise, dass ich sie kaum verstehen kann.
Ich trommle mit den Fingerspitzen auf meinen Oberschenkeln und wünschte, Elvira würde sich endlich zu uns gesellen und diese angespannte Stimmung mit ihrer Heiterkeit auflösen. Doch sie lässt sich Zeit, vermutlich, um uns Zeit zum Reden zu geben. Das Problem ist nur, dass meine Mutter nicht mit mir spricht!
„Und? Was machst du so den ganzen Tag?“ Selbst in meinen Ohren hört sich diese Frage geheuchelt an. Ich weiß, was sie macht: Nichts. Sie sitzt vorm Fenster oder vorm Fernseher und starrt. Eigentlich hat sich nichts verändert: Sie ist immer noch in einer Art Koma gefesselt, doch dieses Mal ein selbst herbeigeführtes Koma mit Fesseln aus Angst vor der Welt und ihrer Tochter.
Sie zuckt mit den Schultern.
„Warst du schon draußen, bei dem schönen Wetter?“
Ihr Kopf bewegt sich leicht und ich deute es als ein nein.
„Es ist wirklich angenehm, noch nicht so schwül wie gestern. Vielleicht könnten wir zusammen spazieren gehen“, wage ich mich vor und merke sofort, dass ich damit diese imaginäre Tür, die sie nur einen winzigen Spalt geöffnet hatte, wieder zugeschlagen habe.
Mama antwortet nicht mehr sondern versteckt sich in sich selbst. Ein Fluchtmechanismus aus ihrer Zeit im Wachkoma, hat Elvira mir mal erklärt. Wenn die Realität zu anstrengend, schwierig oder beängstigend wird, zieht meine Mutter sich in sich selbst zurück.
Ich warte noch ein paar Minuten und als ich den Teekessel pfeifen höre, stehe ich auf. „Ich werde Elvira mal mit dem Tee helfen“, sage ich und verlasse den Raum.
„Was ist los?“, fragt Elvira, als ich zu ihr in die Küche komme.
Sie gießt das heiße Wasser in die mit lila Rosen bemalte Porzellan-Kanne auf dem Tablett. Es stehen noch zwei dazu passende Teetassen mit Unterteller und Löffel darauf, ein kleiner Teller mit einer Auswahl trockener Kekse, eine Schale mit Zucker, ein Kännchen mit Milch und eine noch leere Schnabeltasse.
Als Elvira meinen Blick bemerkt legt sie zwei Finger auf die Schnabeltasse. „Ich weiß, du möchtest, dass ich sie zwinge, aus normalen Bechern zu trinken. Aber du musst die Sauerei auch nicht jedes Mal wegmachen, wenn sie ihren Tee wieder verschüttet!“
Ich habe heute keine Lust auf diese Diskussion, also winke ich einfach ab. „Schon gut“, seufze ich. „Gib ihr die Schnabeltasse, wenn es das ist, was sie will.“
Elvira sieht mich verwundert an. „Alles okay mit dir?“, fragt sie und streift ihre Hände an der mit bunten Rosen bedruckten Schürze ab, bevor sie nach dem Tablett greift.
„Warte, ich muss dich was fragen.“ Ich deute mit dem Kopf auf den kleinen Küchentisch in der Ecke des Raumes. „Können wir hier reden?“
Meine Tante lässt das Tablet los. „Natürlich, Kindchen. Was ist denn los?“
Als wir beide sitzen, platze ich mit den Neuigkeiten heraus. „Die Polizei war gerade eben bei mir und Chris zuhause. Genauer gesagt, zwei Beamte vom BKA.“
Erst reißt sie erschrocken die Augen auf, doch dann fängt sie sich wieder und winkt gelassen ab. „Kein Problem, deine Identität ist verschleiert. Sie können dich in ihren Akten suchen, werden aber nichts finden. Es hat mich eine Menge gekostet, dass alle Daten zu unseren Personen regelmäßig gelöscht werden. Wir haben eine reine Weste.“
„Ja, das weiß ich. Darum geht es auch nicht.“
„Worum geht es dann?“ Sie streicht immer wieder mit den Händen über ihre Schürze und ich merke, dass das Thema Polizei bei ihr, wie bei allen Parapsychologen, Dämonologen, Medien und Schamanen auch, eine gewisse Nervosität mit sich bringt.
„Einer der Kommissare schien dich zu kennen. Sein Name ist Schlegel, er hat nach dir gefragt.“
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