Vor Monaten noch befand sie sich in einer euphorischen Stimmung, es passte einfach alles. Sie nannte es sogar zaghaft Glück. Und sie war davon betroffen, sie, die sich nach Anzahl an Lebensjahren zu urteilen, in einem nicht mehr ganz so taufrischen Alter befand. Obwohl sie sich so jugendlich fühlte, gesund, munter, hübsch. Die Männer drehten sich nach ihr um. Ebenso junge Männer, was ihr sehr schmeichelte. Wo immer sie hinkam, wurde sie mit den Worten begrüßt: „Du siehst blendend aus, immer jünger, wie machst du das nur?“
Genau so fühlte sie sich, wie sie die anderen sahen. Sie spürte bei manchen Frauen die Bitterkeit, wenn sie von ihnen betrachtet wurde. Sah zuweilen die Eifersucht in ihren Augen, wenn zumeist Männer ihre Bewunderung aussprachen. Oft waren die Damen um vieles jünger als sie selbst.
Sportlichen Aktivitäten war sie bereits als Einzelkind, nicht immer zu ihrer Freude, verpflichtet gewesen. Allein der Schulweg war eine Herausforderung, der sowohl im Sommer als auch im Winter teilweise zur Qual werden konnte. Die strengen Winter damals, die es oftmals mit kindshohen Schneewechten galt, zu überwinden, um alsdann in der Schule in den nassen Kleidern dem Unterricht ohne Wenn und Aber beiwohnen zu müssen. Die Eltern waren zu der damaligen Zeit finanziell ganz gut gestellt. Sie war Einzelkind und hervorragend behütet.
Der Frühjahrsübergang in den Sommer hatte bereits sehr heiße Tage zu bieten, und der lange Marsch mit Freundinnen nach Hause machte unendlich müde. Wenn dies heute viele belächelten, es war Sport pur. In den Ferien die Mithilfe bei den Eltern, sei es im riesigen Gemüsefeld, sei es am stets zu erweiterten, bzw. fertig zu gestaltendem Einfamilienhaus, wo seinerzeit die Hilfe der Kinder sämtlicher Familien eine der Not gehorchende Tugend sein musste. Auch das war Leibesertüchtigung pur.
Später gesellte sich, nach ihrer Verehelichung, der Nobelsport Tennis, in ihren Anfängen wirklich noch der Nobelsport par excellence, hinzu, weil der Mann ebenfalls längst diesem Wettspiel huldigte, dem Bergwanderungen, Klettersteige, Skitourengehen und Golf nachfolgte. Und als der Mann anfangs die Alterspension in vollen Zügen genoss, wurde speziell und ausschließlich auf Golf und anspruchsvolle Kletterwanderungen umgesattelt. Im Winter wurden die Tiefschneepisten unsicher gemacht und das Tourengehen natürlich nicht vernachlässigt.
Diese Tatsachen waren wohl ausschlaggebend, ihr das reife Alter nicht anzumerken, die tadellose Figur tat das übrige dazu.
Bereits als Kind wurde sie von fremden Müttern eifersüchtig betrachtet, denn allgemein galt sie als sehr hübsches Kind. Ihr Aussehen hatte sich im Laufe ihrer Lebensjahre noch sehr verbessert, in ihren Zwanzigern nannte sie ihr Vater gerne Gina Lollobrigida, weil er in seiner Tochter eine Ähnlichkeit mit dem berühmten und bekannten Filmstar sah. Aber das war wohl die Verliebtheit des Vaters zu seinem einzigen Kind und daher auch verständlich.
Ihre Heirat – eine Liebesheirat – hatte aus ihr eine strahlende junge Frau werden lassen, deren Glück sich in jeder Phase ihrer Gestik, ihrer Mimik, ihrer Ausdruckskraft widerspiegelte. Sie war für die Liebe geboren, und ihr Mann war sich dessen bewusst und bewunderte sie zu Beginn ihrer Ehe voller Achtung und Stolz, nicht ohne den Anflug von Beobachtung oder sogar geringfügiger Kontrolle.
Sie betrachtete sich im Spiegel nachdenklich, strich sich eine ihrer blond gefärbten, dicken Haarsträhnen aus dem Gesicht, wobei sie selbst anerkennend ihren schlanken Körper betrachtete.
„Wann habe ich aufgehört, in meiner Ehe glücklich zu sein? Was war der Grund, für meine Affären mit jeweils viel jüngeren Männern, die sich ihr gerne anboten? War es die Angst, plötzlich etwas zu verpassen, die Angst vor dem eigenen Alter, die Angst, nun vielleicht die Freiheit wegen eines alternden Mannes aufgeben zu müssen, den man nicht mehr liebte?“
Rasch wandte sie sich ab, ihre Gedanken störten sie, außerdem musste jeden Moment ihr Mann erscheinen.
Und da war er schon.
„Die Leute sind alle blöd, was glaubst, was mir heute beim Tanken passiert ist?“
„Wie soll ich das wissen?, nehme jedoch an, dass du es mir gleich einmal sagen wirst“, dabei verzog sich ihre Miene, und sie schüttelte so energisch den Kopf, dass ihre Haare wild auseinanderstoben.
„Deine hormongesteuerten Launen, wie ich die hasse“, bemerkte Ludwig und verzog ebenfalls sein Gesicht, wodurch sich die Falten um Mund und Augenpartie noch drastisch verstärkten. Mit dir ist ein vernünftiges Wort nicht mehr möglich“.
Ohne sich weiter um die Tankgeschichte zu kümmern, stob er in sein Zimmer, um sich in seine Hauskluft zu werfen.
„Entweder hat ein anderer Autofahrer die von ihm angepeilte Zapfsäule beansprucht, oder es hat ihm beim Tanken aus einem fremden Auto ein Hund angekläfft, oder der Tankwart hat ihn böse angesehen, oder die Zapfsäule hat ihn, aus welchen Gründen auch immer, geärgert. Das sind in letzter Zeit die besonderen widerwärtigen Erlebnisse, mit denen er sich herumquält, und mich ebenfalls“, dachte Brigitte und verlegte ihm trotzig noch rasch seine Tageszeitung, die er sicherlich die nächsten Stunden studieren wollte, und um ihr daraus jene Passagen vorzulesen beabsichtigte, die ihn besonders aufregten.
„Er regt sich überhaupt gerne auf, beim Autofahren, waren alle Trottel, selbst wenn er durch seine sehr defensive Fahrweise die anderen Verkehrsteilnehmer bis zur Weißglut bringen kann“. Brigitte verstand ihren Mann immer weniger. „Er ist alt geworden, und ich werde jünger“, bemerkte sie zu sich selbst, das passt hinten und vorne nicht mehr zusammen“.
„Ich komme mir vor, wie Athene auf Abwegen“. Athene, die Göttin der Weisheit, war immer schon jene Gottheit, zu der sie sich sehr hingezogen fühlte.
Brigitte war der griechischen Mythologie verfallen. Athene, die Schwester des Apollon. Eigentlich war jene eine jungfräuliche Göttin, was ganz und gar nicht zu Brigitte passte. Eher ähnelte sie Aphrodite, der Göttin der körperlichen Liebe und Schönheit, die ihren Gatten Hephaistos mit zahlreichen anderen Göttern betrog, sogar mit dem sterblichen Adonis. Ihr Idol schien in dieser Beziehung nicht sehr wählerisch gewesen zu sein, war sie überzeugt. Deshalb verlieh sie ihrem weiblichen Götzenbild jene Eigenschaften, die ihr grade passten. Und auf die Klugheit der Athene wollte sie einfach nicht verzichten. Sie wandelte auf Athenas Spuren, die zusätzlich jener der Aphrodite glichen. Trotzdem wollte sie unter keinen Umständen auf ihren Bruder Apollon verzichten, den sie sehr verehrte. Apollon, der Repräsentant von Maß, Ordnung, Schönheit, Ernst und Würde, der Heilgott, der ebenso Verderben bringen kann.
Das Pendant zu Athene, was seine zahlreichen Liebschaften anbelangte, die ihm alle kein Glück brachten. Jede einzelne endete für ihn unglücklich. Deshalb war Athene zur Stelle, um ihn zu trösten, bestenfalls im Schlafgemach, was jedoch eher der Illusion Brigittes entsprach, denn von Athene waren solche Ausschweifungen nicht bekannt. Die Götter waren doch allesamt nicht sehr sittenstreng, da ging es drunter und drüber. Bedenken wir nur, Zeus heiratete sogar seine Schwester Hera. Ein verfallenes Sittenbild bietet das Göttergeschlecht der Griechen. Jedoch das gefiel Brigitte, und deshalb verhalf sie ihrer Athene zu enormen Fehlgängen, eine neue, von Brigittes Gnaden konstruierte Athena. Eben eine Athena auf Abwegen. Sie war stolz, diese Verwandlung so gekonnt geschafft zu haben. Denn auf die Weisheit wollte und konnte sie nicht verzichten, weil sie selbst von ihrer Klugheit überzeugt war, was auch in gewissem Maß stimmte. Sie war belesen, sehr interessiert am Weltgeschehen, kulturell am Laufenden, aufnahmebereit, was die Weltgeschichte betraf, besonders empfänglich für die jüngste Zeitgeschichte. Und sie war ein Luxusweibchen, das zwar finanziell von ihrem Göttergatten abhängig war, trotzdem keine Dünkel hatte, aus dem Vollen zu schöpfen. Der ambivalente Charakter konnte ihr nicht abgesprochen werden.
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