Aber Adam lächelt Ivy nur süß an und antwortet »Ich dachte schon, du fragst nie.«.
Adam geht auf das Keyboard zu und klimpert gleich eine hübsche Melodie auf die Tasten. Die Tasten sind übrigens Touchscreen-Oberflächen und das Gerät steht auf einem Gestell mit kleinen Rädern. Ivy schließt sich der Melodie an und spielt ebenfalls etwas Passendes zur Anfangsmelodie. Beide, Adam und Ivy, haben mehrere verschiedene Sequenzen komponiert und geübt, die sie verwenden, um sie in einem Stück spontan zu rekombinieren und ein völlig neues Lied zu spielen. Eigentlich ist es eher wie eine Unterhaltung, die die beiden führen, völlig ohne Worte. Wenn die beiden in ihrer Geheimsprache kommunizieren, ist es als leben beide in einer Welt ohne Flüche und ohne Vorurteile. In ihrer Unterhaltung streiten sich beide um die kaputte Kochnische und Adam versucht sich zu entschuldigen. Aber wenn man zuhört, merkt man nichts davon. Man hört nur Musik ( Burton et al. 2004). Adam und Ivy haben einen Weg gefunden, aus einem Streit Harmonie werden zu lassen. Denn genau das ist es, was der Rest ihrer Gesellschaft nicht hat: Harmonie. Und kurzerhand später verwandelt sich dieser Streit in einen Strudel aus positiven Gedanken, die in Klänge, Töne und Rhythmen transmutieren. In diesem Moment ist alles gut und alles ist schön. Ihre Frequenzen harmonieren miteinander und umarmen sich, werden zu einem Lied, einem Orchester, einem Konzert. Ihre Klänge verschlingen sich, ihre Rhythmen zelebrieren. Es ist, als vollführen beide Künstler einen musikalischen Geschlechtsakt. Und tatsächlich bewirkt das Spiel sogar Erregung und Stimulanz. Ihr Blutdruck erhöht sich, ihre Herzrhythmen passen sich dem musikalischen Hintergrund an, als wollen sie damit verschmelzen und genau das tun sie auch kurz bevor beide zum Höhepunkt kommen. Aber nur Ivy erreicht ihren Höhepunkt und spielt bereits das hohe G. Adam verkneift es sich und spielt wieder tiefere Oktaven, um noch einen Refrain hinzubekommen. Ivy spielt noch die hohen Töne, lässt sich aber von Adam dann doch noch zu einer weiteren Melodie verleiten. Ihre Hände kreuzen sich auf der Tastenoberfläche. Bei diesem Durcheinander sollte man meinen, dass es nun zu chaotischen Tönen kommen sollte, aber Ivy und Adam machen das hier nicht zum ersten Mal. Bei ihrem ersten Mal waren sie total ungeschickt und wussten gar nicht, wo oben und wo unten ist. Und Adam hat ständig die falschen Töne getroffen, so dass es nie zu einem hohen G kam. Aber nun lässt er sie immer und immer wieder das G spielen. Manchmal bis zu acht Mal am Stück. Ivy versucht inzwischen Adam dazu zu verleiten, die höheren Oktaven zu spielen, während sich ihre Arme immer weiter überkreuzen und verknoten. Sie zieht Adam immer weiter nach oben und Adam lässt sich ein kleines Stück weiter zu den hohen Oktaven treiben. Nach einem ausgiebigem Vorspiel und einem halbstündigen Spiel erreichen nun beide das hohe G, um ihr Endstück zu vollbringen, und lassen ihre Töne in einem Strom gleißenden Schalls über ihre Ohren ergießen. Adam stimuliert zum großen Ende mit Zeige- und Mittelfinger die zwei höchsten Töne und klimpert mit den Fingern hin und her, um aus Ivy die besten Töne heraus zu fingern und zu kitzeln. Sie kann es nicht zurückhalten und spielt die höchsten und besten Töne. Während aus Adam nun auch die letzten Tropfen Musik tropfen, werden seine Rhythmen langsamer und seine Klänge tiefer, während Ivy immer noch ruckartig mit den Fingern zuckt, um Adams pulsierende Rhythmen zu genießen, die sie an den empfindlichsten Stellen ihres Inneren spürt und die Adam erbarmungslos in sie hineinpochen lässt. Seine letzten Amplituden sind heftig, aber dennoch geschmeidig und Ivy genießt jede einzelne Zehntelsekunde davon. Dann hören beide schlagartig auf. Das Spiel ist vorbei und beide haben nach 34 Minuten keine Kraft mehr in ihren Fingern, um weiter zu machen. Ihre Herzen schlagen immer noch und zwar vollkommen synchron zu ihrer gespielten Melodie und zu einander. Adam entfernt sich vom Keyboard und Ivy folgt ihm zur Couch, wo sich beide erschöpft hinsetzen. Ivy greift sich Adams Hand und er nach seiner Zigarettenschachtel in seiner Hosentasche. Er holt sich einen Glimmstängel raus und zündet sie sich an, während Ivy schwer atmend seine Hand festhält und drückt. Sie kann immer noch Adams Melodie in sich spüren, wie sie sich in ihren Bauch zwängt.
Adam nimmt erst einen kräftigen Zug von seiner Zigarette und sagt dann mit erweiterten Pupillen zu Ivy blickend »Puuuh!!! Nicht schlecht! Das soll uns erst mal einer nachmachen.«.
Abb. 10:Musikalische Sprache trotzt den Barrieren jeder Logik.
2
Zur gleichen Zeit sind Maria, ihr Team und die Überlebenden des Matrixangriffes zur Kuppel zurückgekehrt. Der Sergeant und Privat Winchester besuchen die Familien ihrer gefallenen Kollegen und sagen ihnen, dass sie nicht mehr zurückkehren werden. Noah ist nach Hause gegangen, um seine verletzte Schulter selbst zu behandeln. Sie ist schlimm, aber der Doktor ist stur wie ein Esel. Währenddessen begleitet Maria Luke Colt zum Quartier seines Bruders Vergil. Sie hat es ihm bereits auf dem Rückweg zur Kuppel mitgeteilt. Die schlimme Nachricht, die niemand verkünden will. Maria packt Vergils Habe in eine Kiste, die unaufgeräumt auf seinem Bett liegt. Maria verspürt ein Gefühl von Wut und Verzweiflung, lässt diese Gefühle in ihr aber nicht machen, was sie wollen. Sie unterdrückt ihre Gefühle. Da erblickt sie das Buch mit dem Titel „ Berge des Wahnsinns “.
Es ist das Buch, das Vergil erwähnt hat und sagt »Pah, du hast das noch nicht mal zu Ende gelesen, du verdammter Schwachkopf!«.
Luke nimmt das Buch vorsichtig in seine Hand und überreicht es Maria, während er sagt »Dann sollten Sie das für ihn übernehmen.«.
Er sieht ihr dabei lächelnd ins Gesicht und sie in sein vollbärtiges faltiges. Er ist älter als Vergil und sieht dementsprechend reifer und erfahrener aus. Sein Bart ist unten gerade geschnitten und gepflegt. Auf dem Nasenbein und an der linken Schläfe trägt er jeweils eine dicke Quernarbe. Eine dicke pummelige Nase lässt ihn sehr sympathisch wirken.
Maria nimmt ihm zögernd das Buch ab und als ihre Hände leicht anfangen zu zittern, fragt sie ihn »Sie wirken gar nicht aufgewühlt, Colt.«.
Luke hebt ablehnend die Handflächen in ihre Richtung und antwortet »Bitte! Nennen Sie mich Luke.«.
Während Maria weiter auf das Buch starrt, fügt Luke hinzu »Ich bin nicht so religiös wie die Anderen. Wissen Sie? Trotzdem glaube ich an einen Gott und an ein Leben nach dem Tod. Ich betrachte Gott als die Ursache für Existenz und, dass diese Ursache nicht unbegründet ist. Deswegen glaube ich auch nicht, dass mein Bruder gestorben ist, ohne etwas bewirkt zu haben. Seine Existenz war bestimmt nicht sinnlos. Dafür war er nicht untätig genug. Und dafür bin ich Gott sehr dankbar. Und wenn wir schon bei dem Thema sind, könnten Sie mir ja sagen, wofür er gestorben ist.«.
Maria drückt das Buch fest in ihrer Hand und antwortet » Dein Bruder starb... für etwas, das mein Bruder haben wollte.«.
Luke lächelt Maria mit weiten Mundwinkeln an und fragt »Und unterliegt das der Geheimhaltung?«.
»Ist das wichtig?«
»Nein, die Details sind nicht wichtig.«
»Mein Bruder könnte damit ein großes Problem lösen... oder ein noch Schlimmeres verursachen. Ich weiß das nicht, weil ich nicht in seinen verdammten Kopf schauen kann. Ich glaube auch nicht, dass ihm klar ist, dass Menschen für diese Sache sterben oder dass es für ihn eine Rolle spielt. Mein Bruder ist kaltblütig und undankbar. Zumindest glaube ich das manchmal. Ob dein Bruder für eine bedeutungsvolle oder bedeutungslose Sache gestorben ist, kann ich also nicht mit Sicherheit sagen.«
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