“ War Ihnen übrigens bekannt, dass Monsieur Freyers Leibw ä chter seinen Spitznamen einem Landsmann von Ihnen verdankt? ”
“ Einem Deutschen? ”
“ So ist es. Er trieb fr ü her in unserem alten Quartier sein Unwesen, spielte dort eine Zeit lang eine ebenso unbedeutende wie unr ü hmliche Rolle und war mit Monsieur Freyer befreundet. Ein rohes, ein übles Exemplar. Irgendwann verschwand er unangek ü ndigt von der Bildfl ä che. ”
“ Sie sind auf Mohun nicht gut zu sprechen? ”
“ Geht es Ihnen damit anders? Zweifellos kennen Sie, wie ich, einiges aus der t ö nernen Sammlung seiner Lieblingsspr ü che, wie etwa: Einst gab es die Lehnsherren. Heute gibt es Leute wie mich … Beeindruckt Sie das? Er ist letztlich auch nicht mehr als ein kleiner, gerissener Ganove. ”
Oskar blieb eine Antwort schuldig. Seine Gedanken kurvten umher. Er dachte an Saloua. Eine Zeit lang hatte er geglaubt, sie wüsste von nichts. Das war falsch, wie ihm inzwischen klar war. Sie hatte die Rolle, die Mohun gegenüber ihrem Vater innehatte, wohl tolerieren können, solange letzterer dabei nicht zu Schaden gekommen war. Es waren sicher nicht die paar mageren Francs an Schutzgeld, die Mohuns Interesse am Rapzodie bestimmt hatten, es ging um etwas anderes. Es ging letztlich darum, wer im Revier der Platzhirsch war, er oder dieser bretonische Rotfuchs.
“ Wann sind Sie eigentlich zu Ferenczy gekommen? ”
“ Knapp ein Jahr, bevor Sie im Gouffre Bleu angetreten sind. ”
“ Und vorher? ”
“ War ich Caller... Sie wissen, was das ist? ”
“ Nicht wirklich .”
“ Es war meine Feuertaufe, bezogen auf die nachfolgende T ä tigkeit als Vort ä nzer. Ein Caller ist ein Ansager, ein Tanzmeister f ü r Square Dance. Das gibt es auch hierzulande. Die Wurzeln dieses angloamerikanischen Volkstanzes liegen sogar, sagt man, in Frankreich, gehen urspr ü nglich auf die Quadrille zur ü ck und wurden sp ä ter zum so genannten Contredance veredelt. Es gibt, was Sie vielleicht interessieren wird, darauf fußende Kompostionen im Bereich der klassischen Musik, so finden sich etwa bei Beethoven einige T ä nze, die der Tradition dieser Tanzbewegung verpflichtet sind, einer davon in der Eroica. ”
“ Interessant. Und warum haben Sie nicht weiter gemacht? ”
“ Ich bin nicht der klassische Vereinstyp. Und das Amt ü bernahm ich des Geldes wegen, nicht aus Passion.. Eines Tages hat man mich hinaus geworfen, zu recht. ”
Für das, was Oscar an Redefluss von seinem Gegenüber gewohnt war, grenzte der voran gegangene Wortbeitrag bereits an Geschwätzigkeit. Er hätte gern einiges mehr erfahren über das, was Garcia-Varga an Kenntnissen in Bezug auf Mohun in seinem geistigen Schließfach verwahrte, doch folgte ihr Gespräch anderen Bahnen, ehe es schließlich ausdünnte und zum Erliegen kam…
Sie saßen sich gegenüber gleich Asteroiden in einer anonymen Punktwolke. Fixsterne schickten ihr Licht, dieselben, die schon die Zusammenkunft der beiden Männer an tunesischen Tischdecken begleitet hatten, nun erneut zu Gast bei ähnlichen wie bei anderen Themen.
“ Sie hatten wohl keine beh ü tete Kindheit, Monsieur? ”
“ Wie kommen Sie darauf? ”
“ Sie erw ä hnten vorhin kurz ihr Elternhaus. Es klang bitter... Das meine war allerdings auch keine Idylle. ”
“ Hat man sie hart angefasst? ”
“ Mein Vater war Privatgelehrter, ein strenger eitler Man n. Wenn er mich dem ü tigen wollte, sagte er: Ich bin Etwas und du bist Nichts. Du musst erst noch Etwas werden. Wenn ich dich nicht h ätte, ä nderte sich nichts, denn nichts kann man nicht von etwas abziehen. Ich war also, soviel hatte ich begriffen, eine Null. Andere aber, dachte ich mir sp ä ter, brauchen die Null, die f ü r sich nichts ist, um selber Größeres zu sein. Das ist ein Anfang. Eines Tages tritt hoffentlich mehr hinzu. Aber man muss abwarten k ö nnen, warten, bis die eigene Stunde gekommen ist.”
Oscar schwieg dazu, fühlte sich aber, als er dieses vernahm, sonderbar ertappt. Ich habe , dachte er und noch zu Teilen nüchtern, den Mann doch untersch ä tzt.
Während zwischen Garcia-Varga und ihm die Wortbeiträge seltener zu werden begannen, mehr Hohlraum lassend für Abschweifungen des eigenen Geistes, spürte Oscar diesem Gedanken noch einmal nach. Schließlich äußerte er dann, schon um seinem Gegenüber darin zuvorzukommen, den Wunsch, aufzubrechen.
“ Wird man einander noch einmal sehen? ”
“ Hm, ich gebe nur ungern Versprechen ab… auf die Zukunft. ”
“ Ich hoffe jedenfalls, dass diese Ihnen bringt, was Sie sich, ehm, von ihr erwarten. ”
“ Danke, Monsieur. Ich will lediglich das, was mir zusteht. ”
Die Idee mit Biarritz stammte ursprünglich von Timo Wüstenfeld. Aus irgendeinem Grunde, der sich später im Dickicht ideengeschichtlicher Ungenauigkeiten verlor, war ihm der Ort positiv aufgefallen, insbesondere im Zusammenhang mit vereinzelten, gequälten Seelen, die sich nach Ruhe und innerer Einkehr sehnten. Das mit der Ruhe stimmte, wie sich zeigen sollte.
“ Du hast mich damals ja quasi dorthin gelotst. ”
“ War es denn so schlimm, Oss ? ”
“ Was hatte dich eigentlich bewogen, diesen locus vorzuschlagen? ”
“ Habe ich, ehrlich gesagt, vergessen. ”
“ Vergessen... so, ah ja. ”
“ Aber sagtest du nicht seinerzeit, der Aufenthalt h ä tte dir einiges an Einsicht gebracht? ”
“ Das war nicht dem Ort zuzuschreiben. ”
“ Sondern? ”
“ Erz ä hle ich dir ein anderes Mal. ”
Oskar will darüber nicht reden. Es ist schließlich eine Art Geheim-Dossier. Eine Sache, die nur ihn etwas angeht, bis auf weiteres, bis die Zeit reif ist… Ulkig! Da macht man - die Umstände wollen es so - eine Entdeckung, findet mehr daran als nur interesseloses Wohlgefallen, weiß jedoch zunächst nicht, wozu sie gut ist, ergo hält man sie unter Verschluss, einstweilen.
Er hat den Freund zu einem Spaziergang mit an den Strand genommen. Constanze ist mit der Nachbarin nach Bordeaux gefahren, zum Schuh-Einkauf. Timo will einen Tag länger bleiben als geplant. Sie können sich also in Ruhe austauschen. Was sie tun. So wie damals, als Oskar sich für eine Weile eine eigene Wohnung nahm, weil es mit seiner Frau unter einem gemeinsamen Dach für ihn nicht mehr auszuhalten war. Er traf sich ab und an mit Timo, um sein Herz auszuschütten, nicht sein ganzes, dazu war er zu vorsichtig und auch zu gut erzogen.
Dann buchte er einen Flug, setzte sich gen Süden ab. Er floh. Die Situation in seiner Ehebeziehung war festgefahren. Im Grunde war es ihm egal, wohin die Reise ging. Er wollte auch nicht unbedingt weit weg. Er wollte nur anderswo sein. Das Ziel entsprang, angeregt durch den Freund, am Ende einer Zufallslaune. Zwischen Constanze und ihm lagen bald mehr als 1000 km Luftlinie. Aber die innere Distanz war größer.
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