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Brigitte hörte in ihrem Intercom die Stimme laut und deutlich: ‚Ich bin so weit.‘ Eine Frauenstimme. Sehr gut. Brigitte hatte sich auf alle Fälle vorbereitet: Mann, Frau, unverständlich. Aber es war eindeutig. Das Seminar bot eine Chance, Sachen zu machen, die sie sich sonst nicht traute, so behütet aufgewachsen und schüchtern, wie sie war. Jetzt aber war sie alleine in ihrer Regiekapsel, niemand kam rein, niemand konnte sie stören, niemand ihr reinreden oder ihr etwas verbieten: Kein Über-Ich kroch dazwischen. Sie war das Über-Ich. „Schön, dass wir zusammen dran sind“, sagte sie fröhlich ins Intercom. „Geht’s gut? Wenn ja, bitte mal kurz winken.“ Eine Hand wedelte kurz zwischen der monotonen Wandfarbe im Hintergrund und der Kamera.
„Prima, dann machen wir jetzt einen kleinen Ausflug. Bitte kurz aufstehen und langsam nach rechts gehen.“ Wow. Es klappte tatsächlich. Ein Roboter mit Sprachsteuerung!
„Bitte gerade mal zum Treppenhaus vor und runter ins Erdgeschoss.“ Das Bild auf dem Schirm setzte sich etwas wackelig in Bewegung und zeigte den gewohnten Anblick der Pinnwände in den Zwischengeschossen, die Fenster zum Innenhof und die kahlen Stufen. Zwei, drei Personen kamen ihnen entgegen, ohne etwas zu bemerken. Brigitte hatte ihren Plan für den Zeitpunkt genau überlegt. Um die Tageszeit leerte sich das Institut meist rapide. „Jetzt wart mal kurz.“ Sie waren im Erdgeschoss angekommen. Brigitte musste sich orientieren. „Bitte einmal langsam um 360 Grad drehen“, instruierte sie. „Ich sage dann stopp.“ Der auf dem Schirm abgebildete Raum schob sich kontinuierlich von rechts nach links. „Halt. Jetzt nach rechts Richtung Ausgang, so zehn Meter vor den Türen, dort bitte stehen bleiben.“ Das Bild gehorchte. Von weit hinten kam langsam ein einzelner Student. Brigitte atmete tief durch. Jetzt oder nie. „Direkt auf ihn zugehen. In den Weg stellen. Auf den Mund küssen bitte.“ Nichts passierte, außer, dass der Student näher kam. Er sah ganz nett aus. Brigitte gab einen kleinen Stromstoß, ‚einen kurzen Stupser nur‘, stellte sie sich vor. Alles kurz. Nach dem zweiten Stupser passierte genau das, was sie wollte.
Samstagmorgen schlief Lommel aus. Schließlich besiegte Schmerz den Traum. Kopfschmerz, und der Druck seiner Blase. Aber er wollte nicht aufstehen. Aufstehen bedeutete, den ganz eigenen Komfort des Bettes aufzugeben, diese besondere Stimmung zwischen Schlaf und Wachheit, die Entschuldigungen, sich nicht zu bewegen, nichts zu entscheiden. Sich so gehen zu lassen, nur zu treiben, war großartig. Lommel döste wieder ein, wachte wieder auf und träumte vage vor sich hin. Irgendwo gab es eine unbestimmte Erinnerung an eine Erinnerung. Das Wissen um eine Erinnerung mehr als der Zugriff auf diese selbst. Positiv war sie, ja; wohlig vielleicht, ja, sogar das. Irgendwas. Der Kern einer Sache, die wertvoll genug war, wieder ausgegraben zu werden. Was war es nur? Petra. Rob. Spiele. Die Perspektive einer neuen Idee. Hatte er nicht den Eindruck gehabt, einen wesentlichen Schritt nach vorne gemacht zu haben, bevor er einschlief? War es besser oder schlechter, in Gesellschaft zu sein und angetrunken, als nüchtern und allein? Warum musste man trinken, damit sich das Leben so gut anfühlt? Und dann mit einem Kater bestraft werden? ,Trink halt weniger‘, sagte eine innere Stimme. ,Aber es hat Spaß gemacht und sich toll angefühlt‘, widersprach eine andere. Jeglicher Gedanke an Projekte für den Tag verursachte Lommel Schmerzen: Einkaufen, seinen Vater anrufen, Kaffee machen, Zeitung holen, einen Plan für heute Abend machen. Heute Abend! Mein Gott – was war nur gestern Abend? Das war wichtiger. Aber noch schmerzhafter. Warum ging es ihm gut? Warum war Petra so nett zu ihm? Was war die Perspektive einer neuen Idee? Was hatten Petra und Rob miteinander? Was machten die beiden jetzt – miteinander? Autsch.
Endlich stand er auf und entschied sich, im Treptower Park und im Plänterwald joggen zu gehen. Neue Fragen kamen auf: Wie kalt ist es draußen? Was anziehen? Wie viel regnet es? Was schützt genug gegen den Regen? Lommel hasste Regen. Musik mitnehmen? Welche? Und – einmal im Park – rechts oder links herum laufen? Eine Stunde später hatte er einen klaren Kopf. Er stellte fest: Robs Kenntnisse der Spiel-Szene waren eindrucksvoll. Hier war mehr Potenzial für seine Forschung, als er bisher gedacht hatte. Oder wenigstens, als ihm soweit klar war. Vielleicht hatte er nicht nur einiges bei den Spielen aufzuholen, sondern auch bei der Forschung dazu: Wenn Menschen so viel Zeit mit Spielen verbringen, dann müssen sie von einer verdammt starken Motivation angetrieben werden. Und wenn wir die Personality Pattern der Spieler mit ihrer Performance in den Spielen selbst vergleichen … oder dem Verhalten ihrer Avatare? Da war definitiv etwas, das er im Netz nachforschen sollte. Ich sage mal (‚ich sage mal!‘ – er schmunzelte in sich hinein!), das würde sich lohnen. Mit einem guten Webcrawler und ein paar schlauen Algorithmen könnten sie schon weiter kommen, als mit einer ganzen Serie von Experimenten. Einfach nur durch das Sammeln von Nutzerdaten. Von den Spuren, die die Leute sowieso im Netz zurückließen. Ganz ohne Blut, Schweiß, Training oder öde Meetings. Nur durch gute Analyse.
Als ihm das klar wurde, stellten auch die profanen Aufgaben seines Wochenendes plötzlich kein unüberwindliches Hindernis mehr da. Wenn eine Sache weiterging, dann half das offenbar auch bei den anderen. Es lief einfach, ohne viel nachdenken zu müssen. Die Energie trug ihn in die nächste Woche. Montag fuhr er so früh in die Uni wie schon lange nicht mehr. Petra kam erst nachmittags, also lenkte sie ihn nicht ab. Zumindest äußerlich. Trotzdem wuchs seine Spannung mit jeder Stunde. Petra. Wie würde es weitergehen? Wie würde er reagieren? Sich über ihre Anwesenheit freuen? Würde sie genauso süß und lieb sein wie am Freitag, als er ging? Oder hatte er zu viel in ihr Verhalten hineingelesen? Klar, mit Kolleginnen und Studentinnen sollte man nichts anfangen. Aber wenn sie so attraktiv waren? Und dann war er es selbst, der das Wiedersehen versaute. Er war kalt und förmlich, und bedankte sich bei ihr für den Abend so emotionslos wie für Volltanken bei Aral. Klar war das seine Unsicherheit, das Vermeiden jeglicher Risiken. Gleichzeitig war genau das auch ein Risiko: dass er zu cool war und sie ihm das übel nahm. Aber nein. Sie reagierte absolut gleichgültig auf seine kalte Art, blieb nett und fröhlich wie immer. Hatte er also zu viel in den Freitag hineininterpretiert? Noch schlimmer. Sie berichtete von ihrem Wochenplan und war überhaupt nicht überrascht, als Lommel sie darum bat, ein Treffen mit Rob zu arrangieren. Weibliche Weitsicht vielleicht. Ohne Zögern versprach sie, sich sofort darum zu kümmern. Dienstag früh hatte sie tatsächlich schon einen Vorschlag parat. Rob würde in ein Lokal in Berlin Mitte kommen; er hatte sowieso in der Gegend zu tun. Ihre Idee war das St. Oberstolz – ein ehemaliger Geheimtipp von Bloggern oder denen, die sich zur digitalen Elite zählten. Jedenfalls für alle, für die eine gute WiFi-Verbindung wichtiger war als schöne Einrichtung oder ausgefallene Getränke. Der Rosenthaler Platz war laut, dreckig und voller junger Leute. Und man kam gut hin. Nur sie wollte nicht mit, was Lommel etwas überraschte.
Lommel hatte genau drei Gründe, Rob möglichst bald zu treffen. Davon waren zwei wirklich legitim, dachte er sich, der dritte eher privat. Er wollte natürlich mehr über die Online-Spiele erfahren. Und herausfinden, wie viel ihnen Rob bei ihrer Arbeit helfen konnte. Dass er das irgendwie konnte, davon war Lommel überzeugt: ‚Ich sage mal, der kann das.‘ Und außerdem wollte er wissen, ob Rob was mit Petra hatte. Und wenn ja, was.
Rob war das Treffen eher egal. Er tat Petra einen Gefallen. Rob hatte ein immenses technisches Wissen, aber er war kein Verkäufer und unterbeschäftigt. Das war eines seiner Probleme. Von seiner Lebenszeit hatte er freiwillig mehr mit Computern verbracht als mit Menschen. Als andere Kinder Fußball spielten, lernte er löten. Im College interessierten ihn seine Spiele am Bildschirm mehr als die Mädchen in der Stadt. Die zu verstehen war anstrengender als Gewichtheben. Und Sex mit denen definitiv viel zu kompliziert zu kriegen. Also absolvierte er seine Ausbildung in Rekordzeit und jobbte als Programmierer. Er lernte bald: Ein Leben als Angestellter lag ihm nicht. Große Firmen waren ihm ein Gräuel, die Pflichten dort langweilig, die verbindlichen Aufträge Stress. Er wollte lieber machen, was er wollte, nicht was verlangt wurde. Also reiste er sofort nach Deutschland, als er von der Electronic Games Convention in Leipzig hörte. Abgesehen von der Sprache, war das spontan ein Erfolg. Technisch hatte er den totalen Durchblick, war unkompliziert und hilfsbereit. Dafür mochten ihn die Leute. So was konnte man auch in Berlin gebrauchen – zumindest einige Monate lang. Ein Projekt folgte dem nächsten. Bis jetzt zumindest. Jetzt war Flaute.
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