Brigitte Miesch dampfte noch von der schnellen Radfahrt zur Uni, als sie den gründlich abgedunkelten Raum hinter der spanischen Wand betrat – voller Respekt, langsam, fast andächtig. Sie schaute sich im Licht einer schwachen Deckenlampe um. Sie war zum ersten Mal im ‚War Room III‘ im Institut. Als Studentin im fünften Semester empfand sie ihre Aufgabe hier als sehr wichtig. Rechts von ihr, vor der Wand, gab es ein kleines, mit blauem Filz bezogenes Podest, darauf befanden sich ein winziger, quadratischer Bürotisch und ein einfacher Stuhl. Auf dem Tisch lag eine dunkelblaue Decke, die bis zum Boden reichte. Außer einem Flachbildschirm stand fast nichts darauf – nur ein Intercom und eine drahtlose Maus lagen daneben. Die Wände umher waren völlig nackt; nicht einmal einen Abfalleimer gab es. ‚Fehlen nur noch Kerzen und Räucherstäbchen‘, dachte sie. Direkt hinter Brigitte folgte Luc De Blanc, der gut aussehende, elegante Doktorand. Er brachte eine Wolke von Hermès mit in den Raum und schloss sofort die Tür, was sie verunsicherte. De Blanc unterschied sich sehr von den deutschen Männern aus ihrem Studentenwohnheim. Aber er hatte es eilig und legte nur flüchtig eine Hand auf ihre Schulter. „Absolute Vertraulichkeit“, sagte er. „Das ist die Regel. Ich weise jetzt dich in deine Aufgabe an der Konsole ein, bist du soweit? Dann setz dich auf den Stuhl bitte.“ Brigitte stieg auf das Podest und nahm an der Konsole Platz. Sie war prinzipiell gründlich, wollte ja nichts falsch machen und ließ sich alles genau erklären: die Funktion der Maus, das Intercom, die Bildschirmaufteilung mit der Liveübertragung des Kamerafeldes, den Zoom. „Wenn du das Kopfhörer aufsetzt, so, bekommst du alles zu hören, was deine Versuchsperson des Durchlaufs auch hört, O. K.? Deine Stimme aber – hier ist das Mikro – wird verzerrt komplett“, erklärte Luc. „Keine deiner Kommilitoninnen und Kommilitonen – auch nicht dein Versuchsperson – erfährt, wer du bist – personne! Und voilà, du bist gehalten, dich auch auf keine Fall zu verraten, nicht. Verstanden?“
Brigitte nickte folgsam.
„Gut. Du kannst sprechen jederzeit. Wenn du nicht gehört werden willst, zum Beispiel, falls du musst husten, klickst du auf dies Feld am Schirm. Und wenn du eine Spannung anlegen willst, schiebst du mit der rechten Mausetaste den Regler auf den gewünschte Wert und löst mit der linken den Strom aus, d’accord?“ Brigitte nickte wieder. „Gut. Mehr ist nich zu sagen. Du bist für alles, was du mit deine Versuchsperson tust, selbst verantwortlich.“ Er schaute auf die Uhr. „Es geht los in drei Minuten – da oben erscheint eine grüne Licht. Nach dreizehn Minuten wechselt es auf orange, bei fünfzehn erscheint rot und bei sechzehn wird automatisch unterbrochen. Ich werde dich hier einschließen jetzt, sodass dich niemand stören kann. Ich bin im Zimmer um die Ecke im War Room II. Im äußersten Notfall – also nur wenn es brennt und so – kannst du mich erreichen, wenn du klickst hier. Bingo? Bon courage.“ Mit diesen Worten verließ Luc den Raum und ließ Brigitte allein zurück mit seinem Duft und ihrer Versuchsperson. Kurz darauf schaltete die Konsole auf grün. „Hallo. Bist du so weit?“, fragte Brigitte mit trockener Kehle.
„Dritter Stock, Doc“, klang Petras fröhliche Stimme verzerrt durch die alte Sprechanlage. Lommels Neugier stieg mit jedem Schritt auf der alten Holztreppe. Jedes Stockwerk zeigte seine eigene kleine Welt aus Gerüchen, Sportschuhen oder Kinderspielzeug, Kisten, alten Blumentöpfen und Fußabtretern jeder Form und Gestaltung. Keine zwei Türen hatten die gleiche Farbe oder den gleichen Renovierungszustand. Schließlich stand Lommel vor einer halb offenen Tür. Sein Herz schlug nicht nur wegen der Treppe.
Petra war in der Küche und kochte Spaghettisoße in einem alten Aluminiumtopf auf dem Gasherd. In der Mitte der Küche stand ein kleiner runder Tisch, an der Wand ein Ikea-Regal. Ein Salat tropfte in einem Sieb. Nur der Mann fehlte, von dem Petra vor zwei Stunden gesprochen hatte. Lommel schaute sich um und traf unversehens ihre Augen. „Rob hat gerade angerufen. Er hat wieder mal länger gebraucht als geplant. Das geht ihm immer so beim Programmieren. Wir werden deswegen nicht warten. Also mach’s dir bequem, Michael. Und hey, hallo, super, dass du kommen konntest!“ Lommel war noch nicht weiter als bis zum Rahmen der Küchentür gekommen. Er machte einen schüchternen Schritt in die Küche und winkte mit der Flasche Côtes du Rhone. „Hallo Petra“, sagte er mit einem undeutlichen Lächeln und wischte sich die Strähne aus der Stirn. „Vielen Dank für die Einladung! Ich hab was zu Trinken mitgebracht …“ „Super, danke! Die Garderobe ist rechts draußen im Flur. Wenn du dir die Hände waschen willst, unser Badezimmer ist gleich dahinter. Und dann könntest du mir vielleicht helfen, den Tisch zu decken?!“ Lommel stellte die Flasche auf den Tisch und nickte. Dabei sah er sich weiter um. Alles sah aus wie bei jeder anderen Studenten-WG. Keine Anzeichen einer Familiengründung. An der Wand neben dem Fenster hingen die üblichen Kunstdrucke, an der gegenüber zwei Poster von Riesenmonstern. Dem Efeu auf dem Fensterbrett fehlte Wasser, der Kaktus daneben war eingestaubt. In einem dritten Topf war frisches Basilikum mit Farbe und Duft wie im Frühling. Er drehte sich um und ging in den schmalen Korridor. Sah alles eher zufällig aus, als sorgfältig arrangiert. Die Schuhe im Regal aus weißem Pressspan, Stiefel und Sandalen wild durcheinander. Genauso die Mäntel: Schichten auf zwei Haken übereinander, offenbar ohne Ordnung: männlich, weiblich, Wolle, Plastik, Baumwolle, grau, schwarz und rot. Er hing seinen Wintermantel darüber und ging zurück in die Küche. Die Erkundung des Badezimmers hatte Zeit.
„Kochst du oft?“, fragte er. „Nö. Ab und zu. Rob kocht auch, aber nur wenn er Lust darauf hat. Und dann besser als ich. Ich hab’s meistens eilig beim Einkaufen und will die Sachen vor allem schnell erledigen. Da ist er anders. Ach ja – die Teller sind dahinten auf dem zweiten Brett von oben. Genau, die Gläser sind da, nimm bitte die von rechts.“ Um dahin zu kommen, musste Lommel sich zwischen dem Tisch und Petras Rücken durchquetschen. Das politisch völlig korrekt zu erledigen war praktisch unmöglich. Er kam ihr näher denn je. Ihre Haare dufteten und kitzelten ihn fast in der Nase. Ihre Präsenz, die Wärme ihres Körpers waren überdeutlich. Er atmete tief ein und bekam trotzdem zu wenig Luft. Als er schließlich vorbei war, meldete sich sein Körper mit Wünschen, die nichts mit Essen zu tun hatten. Also konzentrierte sich Lommel auf das Besteck, die Teller und Gläser, um seiner Emotionen Herr zu werden. Petra konzentrierte sich ungerührt auf ihre Tomatensoße, trocknete den Salat und opferte einen Großteil des Basilikums. Ihm fiel die Aufgabe zu, einen Korkenzieher aufzutreiben, die Flasche zwischen seinen Beinen einzuklemmen, das Werkzeug in den Korken einzuführen und diesen dann an die Luft zu ziehen. Als sich Petra nach dem ´Plopp‘ umdrehte, strahlte sie. Lag das nur am Kochen? „Super, Doc, danke. Es gibt auch noch was Prosecco, da im Kühlschrank. Kochst du selbst?“
„Nur wenn’s nicht anders geht, wenn ich Gäste habe oder während einem langen Wochenende, manchmal. Ehrlich gesagt, das Putzen danach ist nicht so mein Fall.“ „Wie alle Männer“, lachte sie. „Rob vergisst das auch gerne mal. Oh – ich glaube, da kommt er gerade …“ Lommel hörte, wie das Türschloss bewegt wurde. Dann knackte der alte Holzboden im Flur. Schließlich tauchte ein massiver Schatten hinter der Milchglasscheibe der Küchentür auf. „Wow. Das riecht ja toll. Bin gleich da.“ Robert Burke steckte seinen Kopf schnell in die Küche, blinzelte und verschwand wieder. Viel mehr als ein paar rote Haare unter einer Pudelmütze waren nicht zu sehen. „Also, du wirst Rob sicher mögen. Er ist echt locker und genauso helle wie du. Allerdings interessiert er sich für völlig andere Sachen. Und in denen ist er Experte“, erklärte sie stolz.
Читать дальше