Für den Weg nach Hause entschied sich Lommel für die UBahn. Der Rosenthaler Platz lag eine ganze Ecke von seinem Kiez weg – zu weit, um das alles so spät abzulaufen. Im Zug fiel er umgehend in eine Art Halbschlaf. Das Gespräch geisterte weiter in seinem Kopf herum. Hatte er Rob die richtigen Fragen gestellt? Gut erklärt? Taugte die Idee überhaupt etwas? Aus einem Auge sah er die ganzen jungen Leute mit ihren IPods, Handys und irgendwelchen tragbaren Spielekonsolen. Fast jeder war irgendwie mit etwas verdrahtet. Berlin hatte sich verändert. Die Stadt war nicht mehr das Altersheim des Westens. Mehr junge Leute denn je waren unterwegs. Und sie hatten viel mehr Elektronik dabei als früher. Praktisch jeder hier hat seine Ohren verstöpselt. , Das ist es!‘ Noch besser, als aufgezeichnete Daten auszuwerten ist es doch, Daten online aufzunehmen. Das war die Idee. Die Idee. Alle waren sie hier online. Alle kreierten sie ihre eigenen Daten. Alle waren sie die perfekten Studienobjekte – live. Kaum angekommen, rannte Lommel fast in seine Wohnung, klappte seinen Laptop auf und schrieb eine E-Mail an Petra. Sie und seine beiden anderen Teammitglieder sollten morgen früh um Punkt zehn im Besprechungszimmer erscheinen. Lommel trank zwei große Scotch Single Malt Whiskys – von dem für besondere Gelegenheiten, wie heute – und konnte trotzdem ewig nicht einschlafen.
Peter Stachelski war wie immer gegen acht auf seiner Schwalbe KR 51 zum Institut gefahren. Auf dem Parkplatz nahm er den schwarz gestrichenen Armeehelm ab, zog die Handschuhe aus, setzte sich quer auf das Moped und zündete sich eine Selbstgedrehte an. Er rauchte in aller Ruhe, schaute über den Campus und auf seinen Ausdruck mit dem Tagesplan, bevor er schließlich hochging in das Institut, in den War Room II. Seine Morgenkippe war ihm heilig, zu der nächsten würde er erst bei der Pause zwischen seinen Pflichten als Supervisor kommen. Nachdem er sich im Büro gleichzeitig seiner beiden Lederjacken entledigt hatte, die er im Winter stets übereinander trug, und seine neue Lesebrille aufgesetzt hatte, sah er nicht mehr aus wie ein Wendeopfer beim Bierholen im Spätkauf, sondern fast schon seinem Vater ähnlich – der als Professor an der TU Physik unterrichtete. Zwar schlanker, größer und mit noch mehr verwuschelten Haaren, doch mit den gleichen wachen Augen, demselben steten Zweifel im Gesichtsausdruck und dem gleichen Ehrgeiz. Manchmal ertappte sich Stachelski Junior dabei, unbewusst sogar genau die gleichen Gesten zu machen wie der Senior und fragte sich, wie weit das noch gehen würde mit ihrer Ähnlichkeit. Immerhin hatte er sich extra für die Psychologie entschieden und studierte ganz bewusst ein anderes Fach als sein Vater. Peter galt als schüchtern; dabei hielt er nur den Mund, weil er so vieles besser wusste als seine Kommilitonen. Egal, worum es ging. Die Besserwisserei machte nicht populär, sondern einsam. Früher hatten die Zigaretten dagegen geholfen. Seit fast niemand mehr rauchte, waren sie auch keine Lösung mehr. Eher das Gegenteil. Intellektuell war ihm das klar, los kam er von ihnen trotzdem nicht. Also vergrub er sich in seine Diplomarbeit, ging den Kommilitonen aus dem Weg und träumte von einer Freundin, die er bisher noch nicht gehabt hatte. Als Supervisor und Seminarleiter kam er wenigstens regelmäßig mit Mädchen in Kontakt. Sie mussten mit ihm sprechen – ohne dass er sich dafür zu verbiegen hatte. Heute Morgen laut Plan gleich zwei, und eine davon mochte er ganz besonders. Zunächst hatte er Kyuhoji Machi aus Japan im Studentenzimmer abgeholt, sie in den Raum mit der Konsole gebracht, so schnell wie möglich eingewiesen und dann gebeten, etwas zu warten. Er holte die Ausrüstung für die zweite Person, prüfte Kabel und Batterie und ging auf den Gang. Gretchen Vossenkuhl, die Amerikanerin aus Lebanon, Pennsylvania, wartete schon auf ihn. Gretchen, die Süße! Peter teilte weiße Amerikanerinnen in drei Kategorien ein: oberflächliche Modepuppen, Naturmädels und jüdischstämmige Intellektuelle. Gretchen, mit ihren schwarzen Locken, dem schmalen Gesicht mit hohen Backenknochen und dem schlankem Körper, sortierte er eindeutig in die dritte Kategorie. Sie sah ebenso reserviert wie tiefsinnig aus und lächelte doch zurück, wenn er sie ansah. Als er sie angeschlossen und alleine auf dem Holzstuhl zurückgelassen hatte, drehte er sich noch einmal um und winkte ihr zu: „Hope you have a good session. Please take care!“ Er hoffte inständig, Kyuhoji würde sie zuvorkommend behandeln. Doch zehn Minuten später musste er den Durchlauf von seinem Kontrollpanel im War Room II aus abbrechen – das passierte zum ersten Mal überhaupt. Kyuhoji hatte Gretchen in die Cafeteria geschickt. Peter kam ins Schwitzen, als er sah, zu was Gretchen dort gezwungen wurde: Striptease vor allen anderen Studenten. Als Kyuhoji sechzig Volt einsetzte, damit das zitternde Mädchen im Slip auch noch ihren BH auszog, hielt er es nicht mehr aus.
Lommel wachte früh vom anwachsenden Rauschen der Stadt auf. Er schlief mit offenem Fenster; das kalte, klare Hochdruckwetter wirkte auf ihn wie eine Energiequelle. Schnell zog er sich an und verließ das Haus schon vor acht Uhr, wie immer ganz schwarz gekleidet. Auf dem Weg in sein Büro im ersten Stock holte er einen Kaffee. Er schaltete den Computer ein – Pachlower und Stachelski hatten den Termin bereits bestätigt. Lommel hatte Petra gebeten, auch Batch einzuladen, den Geist der Fakultät. Und tatsächlich kam auch von der Seite eine Zusage. Nur Luc, der Älteste im Team nach ihm, wollte später kommen. „Das nervt. Immer muss er sich abgrenzen“, meinte Petra ungefragt, nachdem sie gleich nach Lommel aufgetaucht war. Aber Lommel war nicht in der Stimmung, über seine Mitarbeiter zu diskutieren. „Bitte sorge einfach dafür, dass alle gleichzeitig da sind. Dann muss ich nicht alles zwei Mal erklären“, sagte er. „Ach ja, Petra, dann brauchen wir auch noch Papier für das Flipchart und Klebeband.“ Um halb elf tauchten Lommels Mitarbeiter endlich der Reihe nach in seinem Büro auf. Peter kam als erster. Er wollte bei Lommel seine Diplomarbeit schreiben und war eifrig. Lommel mochte ihn, weil er schlau war, gut organisiert und ein harter Arbeiter. Peter hatte seine mündlichen Prüfungen bestens bestanden. Sein verwuscheltes Aussehen störte Lommel nicht. Aber die Qualmerei. Lommel platzierte ihn so weit weg im Raum wie möglich.
Luc De Blanc kam als nächster. Er war völlig anders: Sehr gepflegt, groß, breitschulterig, schwarzhaarig und stets mit einem Dreitagebart sah er aus wie von einem Werbeplakat. Er roch nicht, er duftete. Sein Platz war nicht die letzte Ecke, sondern die, an der alle anderen vorbei mussten. Luc war nicht Student – er gab den anderen die Ehre, hier seine Doktorarbeit zu machen. Dass das ausgerechnet bei Lommel passieren musste, war ein Zufall - auf keinen Fall Absicht oder ein Zeichen akademischen Respekts. Luc war intelligent, ehrgeizig und durch ein Austauschprogramm an der Humboldt gelandet. Vorher hatte er bei Verwandten in Kanada gelebt und an einer ,Grande Ecole‘ in Frankreich studiert. Für ihn war klar: ,Ich mach in Berlin meine Doktor und lerne Deutsch. Dann fange ich in Frankreich als Direktor an, verdiene viel und habilitiere schnell nebenher.‘ Petra schickte solchen Sätzen in Gedanken immer ein stummes ,et voilà‘ hinterher. Sie fand Lucs Angeberei so nervig wie ihn selbst. Ihr Desinteresse wiederum verstand Luc überhaupt nicht: ,Wann versucht die Kleine endlich, mich herumzukriegen? Was ist mir ihr los?‘
Sie kam als nächstes, und das mit Schwung und voll beladen. Petra hatte eine Flasche Wasser unter einem Arm, Flipchartpapier unter dem anderen und Pappbecher in der Hand. Dazu schleppte sie noch einen dicken Ordner. Die Rolle Klebeband trug sie mit dem Mund. Sogar jetzt, abgehetzt und voll bepackt, sah sie reizend aus. Ihre langen Beine steckten in engen Jeans und hohen Stiefeln, ihr hellgrauer Winterpullover war perfekt gewölbt. Egal was sie mit ihren Haaren gerade gemacht hatte, die Männer schauten sie unweigerlich an. Sie aber schien das nie zu merken. Sie nickte fröhlich ,Guten Morgen‘ und lächelte alle an. Jetzt fehlte nur noch Batch, trotzdem wirkte die Runde bereits wie eine Verschwörung. Die plötzlichen Einladungen, das Fehlen einer Agenda und der mysteriöse freie Stuhl – der sonst nie in Lommels Büro stand –, das alles steigerte die Erwartung. Lommel hatte keine Notizen vor sich. Es blieb ihnen nichts übrig, als zu warten, dass er sich räusperte und endlich loslegte.
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