„Immerhin stammt die Bundeskanzlerin aus Templin.“
Der Graf lächelte ein zweites Mal nachsichtig.
„Was ist mit dem neuen Industriezweig der erneuerbaren Energien? Wäre dies nicht eine große Chance, gerade für eine Region wie diese? In Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt ist man diesbezüglich wesentlich innovativer.“
„Hören Sie, Herr Winterstein, sollte hier auch nur ein Windrad die Landschaft verschandeln, werde ich es persönlich sprengen. Dieser Teil der Uckermark ist quasi ein einziges Naturschutzgebiet.“
Daniel Winterstein beließ es dabei und sagte stattdessen: „Ich würde gern noch einmal auf das tote Mädchen zurückkommen. Die Kripo tappt da wohl noch ziemlich im Dunklen. Was denken Sie darüber? Glauben Sie, dass es Mord war?“
„Schlimm, schlimm. Erst diese unselige Geschichte in Potzlow und jetzt das. Es ist eine Katastrophe. Eine ganze Region in Verruf. Und dieser plötzliche Medienrummel. Im Grunde wurde das alles doch extrem hochgepuscht. Was sollen diese Leute denn machen? Die meisten Menschen hier sind einfache Menschen. Heimatverbundene Kleinbauern, die ein bescheidenes Leben führen. Niemand von ihnen ist es gewohnt, plötzlich ein Mikrofon unter die Nase gehalten zu bekommen, ganz zu schweigen, in eine Kamera zu blicken. Das sind Menschen, die jeden Morgen ihre Hühner füttern und sich über die Kraniche freuen, die im Frühjahr kommen und im Herbst wieder ziehen und vielleicht über den einen oder anderen Touristen, der sich hierher verirrt.“ Freiherr Graf von Wiltberg räusperte sich.
„Und dann dieses Gerede von einem möglichen zweiten Mord. Ich fürchte, da hat die Presse ein gefundenes Fressen. Warten Sie doch erst einmal die Ermittlungen ab. Dieses Mädchen galt bei den meisten Leuten hier als exzentrisch. Sie war nachweislich mehrmals in der Psychiatrie. Wenn Sie Ihre Hausaufgaben gemacht haben, müssten Sie wissen, dass das Mädchen zweimal zwangseingewiesen wurde, per richterlichen Beschluss. Akute Suizidalität. Es geht mich zwar nichts an, aber wenn Sie meine Meinung hören wollen, hat sie möglicherweise ihren Freitod ein bisschen inszeniert. Solche bedauerlichen Dinge kommen vor.“
„Schließen Sie die Möglichkeit aus, dass bei dem Tod des Mädchens irgendwelche rechte Gruppierungen ihre Finger im Spiel hatten? Wurde sie vielleicht bedroht? Immerhin wurden die beiden Täter, die Marinus in Potzlow auf so brutale Weise ermordeten, der rechten Szene zuordnen.“
„Rechte Gruppierungen? Wie meinen Sie das? Hören sie mir überhaupt zu? Das bedauerliche Ereignis in Potzlow hat hiermit absolut nichts gemein.“
„Sagt Ihnen der Begriff Esoterischer Hitlerismus etwas? Gibt es nicht gerade in dieser Gegend einige Anhänger dieser verfassungsfeindlichen Bewegung?“
„Wie bitte?“ Graf von Wiltberg machte seiner Entrüstung Luft, indem er böse mit den Augen funkelte und ruckartig die Beine übereinander warf. „Ich denke, da geht ein bisschen die Fantasie mit Ihnen durch, junger Mann.“
Winterstein warf einen schnellen Blick auf die Uhr und wusste, dass die Hälfte seiner Zeit bereits verstrichen war. Er musste zur Sache kommen, soviel stand fest.
„Nun, diese Bewegung glaubt an den Fortbestand des Dritten Reiches und sieht in Hitler ihren Messias.“ Daniel Winterstein hielt kurz inne und musterte den Grafen. Keine Reaktion. „Meines Wissens gibt es auch einige Leute hier in Gerswalde, die sich Reichsdeutsche nennen. Leute, die der bundesdeutschen Gerichtsbarkeit ihre Legitimation absprechen, weil es ihrer Meinung nach nie eine vollständige deutsche Kapitulation gegeben hat und die Bundesrepublik Deutschland seit der Wiedervereinigung aufgehört hat zu existieren. Sie berufen sich dabei auf den Artikel 146 des Grundgesetzes. Auch der Holocaust wird von diesen Leuten geleugnet.“
Graf von Wiltberg zuckte mit keiner Wimper, sondern fixierte Winterstein verächtlich.
„Neuschwabenland? Schon mal was davon gehört?“ Winterstein wies mit dem Kopf auf die große Karte der Antarktis.
„Ah, darauf wollen Sie also hinaus.“
Eine feindselige Stimmung lag plötzlich in der Luft. Aber Winterstein ahnte, dass er jetzt nicht zögern durfte.
„Ich war neulich Gast eines äußerst seltsamen Treffens. Und bei diesem Treffen fiel Ihr Name.“
„Neuschwabenland ist ein Mythos. Ebenso wie es den Mythos von Hyperborea gibt. Davon wird schon in der griechischen Mythologie berichtet. Sie können gerne bei Wikipedia nachschlagen. Ich interessiere mich gelegentlich für obskure Ideen. Eine Art Hobby. Welchen Hobbys gehen Sie in Ihrer Freizeit nach, Herr Winterstein?“
„Ich spiele Squash.“
„Oh, wie interessant.“
„Finden Sie die Ideologie, die dahinter steckt, nicht ein bisschen gefährlich, Herr Graf?“
„Als Sie mich um ein Interview baten, sagten Sie, es ginge um die Jugendprojekte, die ich in dieser Region finanziell unterstütze“, antwortete Freiherr Graf von Wiltberg frostig. „Sie haben mich nicht nur schamlos getäuscht, indem Sie meine Gutmütigkeit ausnutzten, um meine Meinung zu einem unaufgeklärten Kriminalfall zu hören. Das konnte ich noch akzeptieren, weil mich das Schicksal dieses Mädchens berührt. Mittlerweile strapazieren Sie meine Geduld allerdings ungebührlich. Sollten Sie irgendwelchen Hirngespinsten nachhängen, bin ich ganz gewiss nicht der richtige Ansprechpartner. Also stellen Sie jetzt gefälligst Ihre Fragen zu den Jugendprojekten!“
„Die brandenburgische NPD zeigt sich hocherfreut über diese Projekte. Sie lobte Ihre vernunftgezeichnete Weitsicht, wie sich ihr Vorsitzender ausdrückte. Wieso?“
„Warum fragen Sie nicht den Bürgermeister von Gerswalde. Der ist, glaube ich, in der SPD. Und jetzt verlassen Sie bitte mein Haus!“
„Sie nennen diese Jugendarbeit Redemokratisierung, Herr Graf. Ich nenne es Rekrutierung. Ihre Jugendlichen werden im Naturschutzgebiet der Uckermark geschliffen. Es gibt Fotos.“
Die gusseisernen Flügel des Tores öffneten sich automatisch und Winterstein gab Gas. Die Lindenallee dämpfte das Licht, aber es war wunderbar. Winterstein betastete sein Diktiergerät. Das Interview war im Grunde unbrauchbar. Graf von Wiltberg würde es niemals autorisieren. Egal. Den Artikel konnte er trotzdem schreiben. Und viel wichtiger war etwas anderes. Er hatte einen neuen Anhaltspunkt für seine Recherchen: Hyperborea.
Ob zufällig oder wegen seiner hartnäckigen Fragerei, Freiherr Graf von Wiltberg hatte ihm einen Hinweis geliefert. Was hatte es mit diesem Hyperborea auf sich?
In der rechten Szene wurde es zunehmend bedeutender, nicht nur rassistische, fremdenfeindliche oder sonst welche Parolen zu brüllen, sondern man war bemüht, sich eine gemeinsame Identität zu geben. Eine Identität, die nicht nur in der Gesinnung begründet lag, sondern in einer historisch verbrieften Mission. Sowie er zurück war, nahm sich Daniel vor, würde er sich sofort an die Arbeit machen.
„Du Sackwok!“, kicherte Herr Urban.
„Du Sojafurz!“, johlte Herr Blumentritt und schlug mit beiden Händen auf seine dicken, kurzen Oberschenkel.
„Du Matratze!“
„Du Nudelhals!“
Herr Urban und Herr Blumentritt wieherten im Chor. Dann stand Herr Urban auf, strich sich über den fast kahlen Schädel und schaute zum Fenster hinaus.
„Du Eckfahne!“
„Du Schiedsrichter!“, konterte Herr Blumentritt und das Gelächter begann von vorn.
Unten fuhr ein Wagen vor. Der Wagen hielt vor dem Eingang des Heims und eine Tür wurde geöffnet.
„Ah, der Herr Benjamin“, sagte Herr Urban und pochte mit dem Zeigefinger auf die Fensterscheibe, um sich bemerkbar zu machen. Keine Reaktion. Stattdessen hörte er hinter sich: „Du Tornetz.“
Werner Blumentritt, der älteste Mann mit Down-Syndrom im gesamten Landkreis, rutschte von seinem Stuhl, blinzelte mit den Augen, (eine Folge seines Grauen Stars) und schlurfte in Richtung seines Zimmers.
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